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Jonas, die traurige Mama und die Schuldgefühle

Am Jungen Schauspiel Hannover ist mit Barbara Kantel jetzt wieder eine Mitgründerin am Ruder. Sie setzt auf ein Theater der direkten Kommunikation – auch bei ernsten Themen

Von Jens Fischer

Einfach schön und bezaubernd kompliziert Theater im Theater machen? Zahlendes Publikum einladen, zum Zugucken und Mitdenken, und anschließend ein bisschen über das Erlebte quatschen? So was ist von ihr eher nicht zu erwarten. 1996 hat Barbara Kantel das Junge Schauspiel Hannover mitgegründet, nun ist die Theaterpädagogin zurück – als Chefin. Ihr Team schickt sie in die Stadt hinein, und diese holt sie auf die Bühne. Nicht im übertragenen Sinn, sondern ganz konkret: Kantel will weg vom Beeindruckungs- und Vorspieltheater, hin zu direkter Kommunikation. Heutzutage fällt das rasch unter Partizipation, war aber als „Mitmachtheater“ schon in den 1970er-Jahren schwer angesagt.

Zur Wiederbelebung wird nun eine Besetzungsliste präsentiert, die mit Jonas Steglich einen einzigen Profischauspieler für die Hauptrolle aufführt. Alle anderen Figuren sollen zufällig ausgewählte Zuschauer darstellen. Die so gemachten Erfahrungen, meint Kantel, könnten etwas vom Spielcharakter des Alltags vermitteln und sinnlich fortgebildete Theatergänger zur Folge haben. Vor allem Erwachsene zucken dabei aber erst mal zusammen.

„Wir wollen niemanden bloßstellen“, sagt Kantel, „sondern gemeinsam mit dem Publikum eine Geschichte erzählen und ein Problem behandeln, das nur gemeinsam zu lösen ist.“ Dabei geht es nicht um erwartbare Pubertätshits wie erste Liebe, Entjungferung oder den Sinn des Lebens, nein, thematisiert werden an Depression erkrankte Eltern, die Selbstmord begehen, und die Folgen für die Kinder. Deren lebenslange Angst vor euphorischen Aufschwüngen zum Beispiel – weil die persönliche Empirie doch gelehrt hat, dass anschließend geradezu naturgesetzmäßig der Absturz in nachtschwarze Verzweiflung folgt.

„All das Schöne“ heißt das Stück, ein für Interaktionen weit offener Monolog von Duncan Macmillan. Zwei Jahre hat der Brite zusammen mit einem Stand-up-Comedian in öffentlichen Proben daran herumexperimentiert, wie der thematische Brocken zum Schweben gebracht werden kann, ohne leicht genommen zu werden – dabei aber quicklebendig und humorsanft. Das dabei entwickelte Libretto ist eine Steilvorlage fürs Mitmachtheater. Auf der Bühne steht also Jonas Steglich, der Profi, und erinnert sich an den siebenjährigen Jonas. Dem sagt sein Vater: „Deine Mutter hat was Dummes gemacht“ – erster Suizidversuch, knapp gescheitert. Jonas will weglaufen, weiß aber nicht, wohin. Will sich wehren, ohne zu wissen, wogegen. Bleibt also so still stehen, wie er nur kann. Und tut, was Kinderseelen so oft tun: Er gibt sich eine Mitschuld.

Es muss also etwas wieder gut gemacht werden, denkt Jonas. Er möchte der Mama helfen, nie wieder traurig zu sein. Er beginnt Dinge aufzulisten, Erlebnisse und Gefühle, die das Dasein lebenswert machen: 1. Eiscreme, 2. Wasserschlachten, 3. länger aufbleiben dürfen als sonst und dabei fernsehen. Ferner: die Farbe Gelb, Achterbahn fahren, stolpernde Leute sehen und beim Baden ins Wasser pinkeln, ohne dass es jemand merkt. Die Numerierung folgt dabei keiner Bewertung, sondern der zeitlichen Reihenfolge des Aufschreibens. Wenn die Liste lang genug ist, will Jonas sie seiner Mama aufs Kopfkissen legen. Er weiß, sie wird die Rechtschreibfehler korrigieren, so pingelig ist sie, aber dazu muss sie es ja auch lesen. Und dann, hofft Jonas, wird sie wieder gesund.

Jahre später weiß er: Depressiven mangelt es nicht an Argumenten zum Lebensmut, sie sind psychisch schwer krank. Mit diesem Wissen gesellt sich bei Jonas zu Unverständnis und Wut dann ein „kristallklares Verstehen, warum jemand nicht mehr weiterleben will“.

Steglich changiert geschickt zwischen der Rolle und seiner Funktion als Moderator, Animateur. Er pickt sich einen älteren Herrn aus dem Publikum: Der soll einen Tierarzt mimen und den kranken Lieblingshund des Jungen einschläfern. Erstbegegnung mit dem Tod, eine höchst sensible Situation. Der stocksteife Mann plappert aber nur brav nach, was Steglich ihm vorsagt, im Publikum lachen manche – eine verschenkte Szene. Steglich spendiert derweil wissenschaftliche Hintergrundinformationen und singt einige grönemeyernde, zusammen mit dem Bühnenmusiker geschriebene Rocksongs.

Der kleine Jonas kann so nicht gegen seine Ohnmacht rebellieren, er ist ja noch ein Kind. Er setzt sich ins Publikum, sucht verzweifelnd Antworten und erfindet ständig neue auf eine schier endlose Folge von Warum-Fragen, die eine Zuschauerin zu stellen hat. Eine andere muss Psychologin spielen, schlüpft aber auch nicht so recht in diese Rolle: Sie nutzt sie eher als Chance, Steglich keck anzuflirten. Die Situation ähnelt dem Flaschendrehen auf einer Party: Und die nächste Auserwählte ist … die Prinzessin des Tages, Jonas’ erstes Date. Sie wird ins Bühnenbild-Terrarium entführt und über die gemeinsame „Werther“-Lektüre zum ersten Kuss verführt. Ratzfatz kommt ein Brautvater – aus Reihe 6 – dazu, muss eine Hochzeitsrede halten. Einige Mädchen im Publikum fangen da schon an zu murren, nicht auf die Bühne gebeten worden zu sein.

Durch das Mitspielenmüssen erhält der Abend eine lockere Atmosphäre, eine Art Wir-Gefühl macht sich breit. Gut funktioniert auch das Publikum als Chor der Lebensbejaher: Jeder Besucher bekommt einen Schnipsel von Jonas’ Liste und darf auf Aufforderung rufen, flüstern oder singen.

Irgendwann gelingt der Mutter, was zunächst schief ging, der Abgang durch eigene Hand. Jonas schreibt seine Liste fort, im Laufe des Lebens folgen Einträge wie Nacktbaden und Sex, irgendwann hat er eine Million davon. Listenführen als Methode, gestärkt aus einer schwierigen Situation hervorzugehen – und der Angst zu begegnen, selbst depressiv zu werden. All das Schöne schärft Jonas’ Sinne für den Wert so unscheinbarer Momente, ist eine Partitur der Überlebenskunst. Und im Publikum vermittelt es die Lust, selbst etwas hinzuzufügen. Der einemillionunderste Eintrag könnte Steglichs eigene leidenschaftliche Performance positiven Denkens sein.

In diesem Sinne wird das Mitmachtheater in den erklärt interkulturellen, noch deutlicher partizipativen Folgeprojekten vielleicht noch besser funktionieren: In Stadtteilzentren, Gemeinschaftsunterkünften und Seniorentreffs sucht das Junge Schauspiel gerade Menschen, die über Liebe anno 2017 arbeiten möchten. Und das Yalla-Ensemble aus jungen Zugewanderten arbeitet an künstlerischen Interventionen für – die Stadt.

„All das Schöne“: 19. + 28. 11., 12., 19. + 28. 12., Hannover, Junges Schauspiel

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