piwik no script img

Erst kamen die Leuchtquallen, dann spülte es Leichen an Land

Das ist literarische Völlerei: Der Literaturwettbewerb Open Mike in Berlin zeigte das hohe Niveau von Nachwuchsautoren. Er wird als Eintritt in den Literaturbetrieb gesehen und begann und endete mit Geschichten aus Polen

Von Detlef Kuhlbrodt

Beim ersten Open-Mike-Wettbewerb vor 25 Jahren fühlte sich ein Teil der teilnehmenden DichterInnen noch dem Underground verpflichtet, verachtete den Wettbewerb, an dem sie teilnahmen, ein wenig und nannte die anderen Streber. Es war sehr eng gewesen am Majakowskiring in Berlin, nachts ging man betrunken in die Sauna des Hauses. Es war eine Art Theater, in dem diese Post-68er-West- und Prä-89er-Ost-Boheme und Szene-Dissidenz noch einmal aufgeführt wurde.

Der heutige Literaturbetrieb– mit zwei Hauptinstituten für kreatives Schreiben in Deutschland, mehr Fördergeldern, Stipendien usw. – entwickelte sich erst in dieser Zeit. Und mit ihm der Open Mike, der wichtigste Literaturnachwuchswettbewerb im deutschsprachigen Raum, der nach diversen Ortswechseln seit fünf Jahren im schönen Heimathafen von Neukölln stattfindet, einem 1876 gebauten Festsaal mit Galerie, in dem mehr als 400 Leute Platz finden.

Der Teil des Literaturbetriebs, dem man am Wochenende hier zuschauen konnte, war angenehm. Vor allem die auftretenden „jungen Menschen“ schienen größtenteils kommunikativ eingestellt zu sein. 580 hatten sich beworben, darunter 90 Einsendungen von Lyrik. „Der Gewinn und oft auch schon die Teilnahme beim Open Mike bedeutet in der Regel den Eintritt in den Literaturbetrieb: Agent*innen, Lektor*innen, Verleger*innen und Kritiker*innen sind aufmerksam geworden, Kontakte werden geknüpft, Visitenkarten ausgetauscht, Verhandlungen begonnen“, steht in der Pressemappe.

Thomas Wohlfahrt, Leiter der Literaturwerkstatt Berlin, nannte den Open Mike die „Simulation des Literaturbetriebs“. Man könnte darüber philosophieren, ob das der richtige Begriff ist – die meisten der Teilnehmer*innen haben ja schon einige Preise und Stipendien gewonnen, sind wie Tobias Pagel Lehrbeauftragter für eine Textwerkstatt Lyrik an der Uni Konstanz und veröffentlichen. Allein „das Zielmedium, ein Buch zu haben, ist nicht erreicht worden“. (Wohlfahrt). Kein Buch zu haben, ist jedenfalls die Eingangsvoraussetzung, um am Open Mike teilnehmen zu können.

Egal. Es war ein guter, interessanter Jahrgang sozusagen, der in Polen begann und endete. Am Anfang stand ein Text von Magdalena Kotzurek, der von drei Freundinnen erzählt, die an der polnischen Ostsee Urlaub machen und Neonazis begegnen. Am Ende ein atmosphärisch dichter Romanauszug von Mariusz Hoffmann, der von zwei zehnjährigen Freunden in einem Dorf handelt, kurz bevor die Familie des einen nach Deutschland umzieht.

Das Niveau des diesjährigen Open Mike war erstaunlich hoch, „erschreckend professionelle“ Auftritte gab es diesmal nicht. Die drei ersten Preise mit jeweils 2.500 € gingen an Ralph Tharayil, Ronya Othmann und Mariusz Hoffmann.

Das haute einen um

Die auftretenden „jungen Menschen“ schienen größtenteils kommunikativ eingestellt zu sein

Ralph Tharayils Geschichte „Das Liebchen“ haute einen um. Es geht um „das Liebchen“ und ihre beiden Brüder Dablu und Bablu, um mordende Kinder in Berglandschaften und Zwangsheirat am Rande. Der teils fantastische Text entzieht sich einer kurzen Beschreibung. Ronya Othmanns „Poèmes en Probe“ ziehen den Zuhörenden/Lesenden als Du in den Textfluss hinein.

Aber auch neben den Preisträgern gab es viel zu entdecken, man konnte sich mit Geschichten füllen. Christian Schulteisz berichtete von einem heftchenlesenden Schrankenwärter in Dalmatien, Eva Maria Leuenbergers schwindelerregendes Gedicht „Schlucht“ zitierte unter anderem Euripides, Aischy­los, Maggie Nelson, Louise Glück und andere. In Baba Lussis wunderbar durchrhythmisiertem Text „So kommt’s“, den die taz-Publikumsjury mit einem Preis auszeichnete, geht es um einen riesenhaften schweigenden Fremden, der plötzlich in der eignen Wohnung sitzt. Für Baba Lussi war es ihr erster Preis.

Armin Wühle erzählt von Urlaubern. Erst wird der Strand wegen Leuchtquallen geschlossen, dann wegen angespülter Leichen. In Lukas Diestels humorvoller Geschichte vervielfältigt sich der Peter genannte Held in seinen Möglichkeitsformen. André Pattens Monolog mit einem Schaf hätte man früher Popliteratur genannt.

Sarah Wipauers fantastische Geschichte handelt von Männern, die an Säuglingen sterben, die in ihrer Brust plötzlich wachsen. Und es gab einen traurigschönen Text, „Sam“, der von einer Freundschaft handelt, von Krebs und Abschied, vom Rauchen und von Spiegelneuronen. Matthias Emanuel Tonon hat ihn geschrieben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen