: Porree, Kartoffel und Holunder
Gartenprojekte in und um Berlin leisten einen wichtigen Beitrag zum Erhalt der Biodiversität. Eine kleine Geschichte des urbanen Ackerbaus
Von Helmut Höge
Das Erntedankfest fiel in diesem Jahr auf den 1. Oktober, aber es wird immer noch geerntet – unter anderem Porree, Schwarzwurzel, Marihuana, Holunder und diverse Obstsorten. Dennoch haben die meisten Urban Gardening Projekte ihr Erntedankfest schon hinter sich, auch der „Weltacker“ packte mit Ende der IGA seine Sachen zusammen. Es gibt aber noch einige Nachzügler, wie den Bauerngarten Havelmathen in Gatow, der seine „Saison“ erst am 4. November beendet: „An diesem letzten Tag heben wir die Begrenzung der Flächen in privat genutzte Erntefelder auf. Gemeinsam sammeln wir alle Reste aus den Parzellen und teilen sie unter den Anwesenden auf.“ Und dann wird gefeiert.
Nun liegt Gatow zwar am Stadtrand, aber der Bauerngarten dort zählt auch zu den Berliner Urban-Gardening-Projekten. Das erste entstand in Westberlin genaugenommen auf einem DDR-Grundstück – auf einer kleinen Verkehrsinsel, die beim Mauerbau außen vor gelassen worden war. Mit Erlaubnis der Grenzsoldaten konnten zwei türkische Arbeiter dort im Jahr 1983 Gemüsegärten anlegen und sich aus Abfallholz sogar zweigeschossige Lauben bauen. Ihre beiden Gärten existieren noch heute.
Die wahrscheinlich umfangreichsten Urban-Gardening-Projekte in der Stadt sind die massenhaft von den Anwohnern begrünten Baumscheiben. Es sind unzählige, zwar wird manch liebevolle Bepflanzung irgendwann wieder aufgegeben oder zerstört, aber es kommen immer wieder neue dazu. Ihre kleinen Einzäunungen werden verbessert und Sitzbänke drumherum gebaut. Anfangs versuchten die Bezirksverwaltungen diese seltsame Bürgerbewegung noch mit Verfügungen zu stoppen. Aus Treptow hieß es 2010: „Diese Begrünungsmaßnahmen mitsamt Umzäunung greifen ins öffentliche Stadtbild ein und stellen Gefahren dar.“ Das könne unter keinen Umständen erlaubt werden. In Neukölln ließ man im Jahr 2015 rund 60 Baumscheibenbänke entfernen – wegen Lärmbelästigung. Und in Pankow wurde noch kürzlich eine ganze Baumscheibenbepflanzung von Amts wegen entfernt.
Die Urban-Gardening-Projekte, die sich auch so nennen, sind großenteils der Bio- und Vegetarierkonjunktur geschuldet. Aber damit hat man das Problem des Tiereschlachtens und -verspeisens nur verschoben auf Lebewesen, die keine Augen haben und nicht schreien beim Töten. Ansonsten werden sie jedoch genauso verdinglicht.
Das Haus der Kulturen der Welt führte einmal im Rahmen der Ausstellung „Animismus“ einen sowjetischen Film vor, in dem ein Weißkohl zerschreddert wird, während ein anderer Kohlkopf neben ihm, an eine Art Lügendetektor angeschlossen, die heftigsten Reaktionen zeigte. Sie ließen sich als Todesangst deuten. Ironischerweise fand dort im Haus zur selben Zeit ein Kongress statt, auf dem die Tierrechtsaktivistin Hilal Sezgin bei der Frage „Was soll man jetzt machen?“ auf ihre vegetarische Lebensweise zu sprechen kam, die sie damit begründete, dass Pflanzen „keine Gefühle“ besäßen. Sie stieß mit dieser Meinung bei den Zuhörern auf heftigen Protest. Anscheinend traut man heute den Pflanzen doch mehr zu, als nur ein Nahrungsmittel oder ein ästhetischer Genuss zu sein.
Dennoch schreitet ihre Verdinglichung munter fort. Die Züchter meinen, ihre Kunden wollen immer neue Blumen mit immer üppigeren und knalligeren Blüten, und bei den Beerensträuchern und Obstbäumen immer verrücktere Kreuzungen mit immer größeren Früchten. So wird die Flora langsam denaturiert. Mit der Gentechnik kreierte man violett blühende Rosen und Nelken und kürzlich auch noch blau blühende Chrysanthemen: „Endlich!“, freute sich die FAZ, da Generationen von Blumenzüchtern dies vergeblich versucht hatten.
Bei den Gemüsepflanzen gibt es eine ähnlich unheilvolle Entwicklung. So werden zwar alle Tomaten regionalisiert und ökologisiert angeboten: Sie kommen aus „Italien, Spanien und Holland“ oder werden – in Österreich – als garantiert „gentech-frei“ verkauft. Dabei gibt es gar keine gentechnisch veränderten Tomaten im Handel. Es ist alles Etikettenschwindel. Fast alle Tomatensamen stammen aus Holland – von den dortigen Tomatenzüchtern, deren Firmen jedoch großenteils den multinationalen Chemiekonzernen Monsanto, Bayer und Syngenta gehören. Letzterer wurde gerade von dem chinesischen Konzern China National Chemical Corporation übernommen und Erstere schlossen sich zusammen. „Heute sind noch zehn Samenhäuser verantwortlich für 85 Prozent des Weltmarktes in Gemüsesamen,“ schreibt die holländische Autorin Annemieke Hendriks in ihrer hervorragenden Reportage „Tomaten“ (2017). Sie interviewte darin einen Manager der niederländischen Saatgutzuchtfirma Rijk Zwaan, die „an vorderster Front“ gegen die Patentierung von klassischen Samenveredelungsprozessen kämpft (damit sind keine Gentechnikprodukte gemeint). Gleichzeitig arbeitet Rijk Zwaan jedoch mit dem Biotechunternehmen KeyGene zusammen und erwarb im Jahr 2016 ein Tomatenpatent, drei Jahre zuvor hatten die Züchter bereits ein Salatpatent erworben. Annemieke Hendriks nennt die Firmenpolitik von Rijk Zwaan „zwiespältig“, während der Manager meint: „Wir haben eine kuriose Situation.“ Damit will er sagen, dass seine Firma auch weiterhin gegen EU-Patente auf Lebensmittel ist, dass sie aber dennoch dabei mitmachen müssen, um konkurrenzfähig zu bleiben.
Kurios ist auch, dass in England eine lilafarbene Tomate auf herkömmliche Weise aus alten Rassen gezüchtet wurde, und fast zur selben Zeit das Wageningen University & Research Center in Holland eine Tomate mit lila Pigmenten auf gentechnischem Wege entwickelt hat. „Der Wageninger Testtomate hatte man zwei Gene des Löwenmäulchens eingepflanzt.“ Dadurch war sie nicht nur lila geworden, sondern – wie mit Mäusen im Experiment bewiesen, sollte auch gut gegen Krebs sein: „Eine Anti-Krebs-Tomate.“ Am Institut für Agrar- und Gartenbauwissenschaft der Humboldt-Universität meinte man dazu nur: „Wäre es doch bloß so einfach.“ Das gilt wohl auch für das Urban Gardening insgesamt, um sich von Pflanzen und nicht von Tieren zu ernähren.
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