piwik no script img

die steile thesePoesie akzeptiert weder Fesseln noch Zwang

Foto: Henry Roy

Muepu Muamba, geboren 1946, ist kongolesischer Schriftsteller. Er war in Kinshasa in den 1970er Jahren als Publizist und Verleger tätig, bis er 1979 ins Exil gehen musste. Er lebte in Westafrika, in Paris und ist seit 2000 in Frankfurt am Main.

Von Muepu Muamba

Mein Großvater mütterlicherseits war ein alter Afrikaner. Er kannte weder Aristoteles noch Kant und noch weniger die ganze heilige Familie der Aufklärung. Aber er las auf der Haut Afrikas die Philosophen des alten Kontinents. Wenn ich an ihn denke, kommt mir der alte Hampâté Bâ in den Sinn: die Füße, die der Form der Erde folgen und aus denen der Dichter wächst.

Als mein Großvater spürte, dass das Ende nahte, ging er in sein Dorf, um zu sterben. Die Leute damals wussten, wie man stirbt. Sie hatten Charakter und einen Sinn für Würde. Sie hatten nur ihr Wort, sie kannten Schande und Scham. Zwei oder drei Wochen vorher war es meinem Großvater wichtig, mir eine letzte Lektion mit auf den Weg zu geben, in der Form einer Erzählung – als Rätsel, wenn nicht als Initiation. Ich komme darauf zurück.

Viel später erst wurde mir klar, dass die subtilen Lehren meines Großvaters mich stark geprägt haben – unbewusst. Er lehrte mich die Tiefe des Schweigens, den Zweifel, den Respekt vor den Wesen und vor der Natur. Der alte Afrikaner lehrte mich auch die Vorsicht und die Notwendigkeit, Worte zu hinterfragen. Zu seiner Zeit sprachen die Tiere und die Pflanzen noch mit den Menschen. Sie teilten eine Schicksalsgemeinschaft. „Lausche im Wind / dem Busch in Tränen / es ist der Atem der Ahnen“, sagt der Poet Birago Diop.

Heute sind die Dinge völlig anders. Als wären sie Hamburger, sind Worte zu Konsumgütern geworden, geschwätzig und ohne Konsistenz oder Tiefe, krank, faulig. Die Tiere und Pflanzen schweigen, endgültig.

Hier landen wir im Herzen der Debatte: Woher kommt die Literatur? Welche Rolle spielt die große mündliche Bibliothek? Sind Literaturen nicht das Produkt des gemeinsamen Weges der Nationen und der Völker? Sie folgen den Atemkurven der Völker, sie schmiegen sich an den Blutkreislauf in den Venen der Nationen an.

Als Afrika noch stolz war

1979 fand ich mich in guter Gesellschaft in Berlin wieder. Im Rahmen des ersten Festivals der Kulturen der Welt, „Horizonte 1979“, gab es in dieser Stadt ein Kolloquium über die afrikanische Literatur. Fast alle Größen fanden sich ein. Ich sage: fast alle, denn wenn mein Gedächtnis mich nicht täuscht, fehlte in Berlin das nördliche und das portugiesischsprachige Afrika, und auch das amerikanische.

Es waren dort unter anderem Dennis Brutus, Bessie Head, zwei südafrikanische Schriftsteller im US-Exil; Camara Laye, Chinua Achebe, Wole Soyinka, Ahmadou Kourouma, Mongo Beti, Édouard Maunick und viele andere. Dambudzo Marechera und ich waren unter den jüngsten. Die Alten waren weder arrogant noch geringschätzig. Sie konnten zuhören. Die Stimmung war brüderlich, angenehm. Acht Jahre danach starb Dambudzo Marechera in den Straßen von Harare im Elend, wie ich erst Jahre später erfahren sollte. Wie viele Grabsteine diese Liste längst umfasst!

Damals waren fast all die Themen, um die es heute geht, schon auf dem Tisch. Mit dem Unterschied, dass Afrika noch stolz war, fröhlich im Hinblick auf die Zukunft. Unsere Hoffnungen waren größer als unsere Lippen. Im Kongo der 1970er Jahre war das literarische Leben lebendig, üppig, optimistisch. Im Schatten des mächtigen kirchlichen Verlagshauses Saint-Paul blühten Kleinverlage, Selbstverleger, Ideen, Träume. Alphonse Kangafu Gudumbagana und ich hatten den Verband „Gai Savoir“ (Fröhliches Wissen) gegründet, wir organisierten die ersten Literaturtage von Kinshasa als Vorstufe einer Schriftstellerbiennale für ganz Zentralafrika.

Gott und die Ratte

Wir überzeugten den Stadtgouverneur davon, einen Literaturpreis von Kinshasa zu stiften; der erste Preisträger war Zamenga Batukezanga. Der kongolesische Verlegerverband wurde geboren. Wir waren euphorisch, voll Zuversicht. Wir hatten keine Ahnung, dass das Schlimmste erst noch kommen sollte, dass Entbehrungen und Leichen unsere Seelen und unseren Geist prägen würden.

Die schlimmste Entbehrung ist die geistige. Sie führt zur Unterwerfung und zur mentalen Versklavung. Es ist viel Wasser den Fluss der afrikanischen Literatur hinuntergeflossen: Kreolität, Postkolonialismus, Weltliteratur. Aber auch viele leere Worte, Metaphern von Betrügern. Und unsere Herzen sind so blind geworden.

Die Erzählung, die mein Großvater mir auf den Weg gab, hieß: „Die Unvollkommenheit Gottes“. Mutumba die Ratte hatte seinen einzigen Sohn verloren. Er weinte, und seine Trauer gipfelte in dem Satz: Gott ist allmächtig und allwissend, aber auch er macht Fehler! Da war der allwissende Gott verblüfft und zitierte Mutumba zu sich, um ihn zu richten. Vor dem Tribunal des Allmächtigen angekommen, rief Mutumba: „Ihr habt eine Unvollkommenheit: den Tod!“ Dann ging er fröhlich von dannen, siegesgewiss. Der Allmächtige war sprachlos.

In Berlin 1979 kam mir diese Erzählung in den Sinn. Sie bewog mich dazu, mich nicht in Europa im Exil niederlassen zu wollen. Ich ging auf Reisen durch Westafrika, eine Initiationsreise. Ich musste dieses unbekannte Afrika kennenlernen.

Was war noch mal die Frage? Gibt es einen Kanon der afrikanischen Literatur? Um welches Afri­ka geht es denn? Wo beginnt es, wo hört es auf? Wem gehört dieses Afrika? Wer entscheidet über die Zugehörigkeit? Die Homogenität der Völker ist eine Legende, eine politische Erfindung des 18. und des 19. Jahrhunderts. Die wirkliche Frage ist, zu wissen, was wir erleben. Für Frauen und Männer wie Pixley K. Isaka Seme, einen der Gründer des ANC, war die Einheit Afrikas nicht einmal zu diskutieren. Schon die Frage war sinnlos. Afrika reichte von Nord bis Süd.

Literatur ist ein Versuch, ein Volk auf dem langen und schwierigen Weg zu begleiten, das Zusammenleben zu lernen, sich gemeinsam eine gemeinsame Identität zu erfinden. Sie versucht, die Knospen zu verstehen, die auf diesem gemeinsamen Stamm der Identität wachsen, in einem ständigen Prozess der Neuerschaffung, um den alten Saft lebendig zu halten.

Selbst den Päpsten und den Ulemas, den Religionsgelehrten des Islam, ist es trotz Jahrhunderten unbeschreiblicher Gewalt nicht gelungen, einen gemeinsamen Kanon zu erzwingen, weder im Christentum noch im Islam. Wieso soll sich die afri­kanische Literatur dem beugen?

Wer bestimmt überhaupt die Bedeutung der Dinge? Jene, die sich selbst für noch wichtiger halten. Sie sind davon überzeugt, dass ihnen die Legitimität und die Autorität innewohnen, Dinge zu benennen. Dabei ist Poesie die Möglichkeit, den Konsens zu brechen, sie ist oft paradox, also jenseits der Doxa. Poesie akzeptiert weder Fesseln noch Zwang. Sie nimmt nie impe­riale Diktate an. Sie sprengt sie alle fröhlich in die Luft. Sie ist eine Rebellion aus Passion und Sanftheit. Afrikanische Literaturen formen sich beim Schreiben, so wie das Afrika, das sie begleiten. Ihr Kanon wird auch und immer im Nachhinein geschmiedet.

Ist ein Kanon nicht auch eine Frage der Sichtweise? Manchmal auch der kaum verhüllte Ausdruck von Machtstreben? Ein geistiger Imperialismus? Seit der sogenannten négritude haben viele versucht, afrikanischen Literaturen ihren Kanon aufzuzwingen, vergeblich.

In der Zeit meines Großvaters hatte das Wort Dichte, das Gewicht der heiligen Jagd. Es wusste, dass Blut die Morgenröte verdüstert. Man gab sein Wort. Ich könnte Frantz Fanon paraphrasieren, indem ich sage: Verlassen wir unsere schöne rhetorische Architektur, unseren ästhetischen Humanismus, der ständig vom Menschen spricht und zugleich konkrete Frauen und Männer missachtet, erniedrigt und massakriert, an jeder Ecke jeder Straße der Welt.

Aber weil ich, um der Authentizität willen, einen alten Ahnen beanspruchen sollte, geformt vom roten Staub des afrikanischen Kontinents, habe ich einen gefunden, jahrtausendealt: den Bauern, der die Pharaonen herausfordert und das Elend denunziert. Schon immer hat der Poet das unverfaulbare Recht beansprucht, sich seine Ahnen selbst zu wählen.

Aus dem Französischen von Dominic Johnson

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen