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Türen für den Tod

Aribert Reimann hat drei kurze Theaterstücke von Maurice Maeterlinck zu einer neuen Oper zusammen-geführt. Sie heißt „L’invisible“ und ist am Sonntag an der Deutschen Oper in Berlin uraufgeführt worden

Von Niklaus Hablützel

Knallende und knirschende Saiten von Kontrabässen und Celli eröffnen das Spiel. Auf der Bühne steht die Fassade eines schmucklosen Hauses. Links ein offener Innenraum, in der Mitte ein perlmuttern schimmernder Balkon, rechts die Brüstung einer Terrasse. Der Weißrusse Zinovy Margolin hat diese Kulisse entworfen. Sie öffnet einen surrealen Raum, in dem sich Inneres und Äußeres eines imaginären, ortlosen Gebäudes ständig vertauschen.

Vor einer geschlossenen Tür unter der Terrasse taumelt Stephen Bronk herum. Der Sänger sucht mit weit ausgestreckten Armen Halt in dieser verdrehten Welt. Er singt Bass und spielt den blinden Großvater einer wohlhabenden Familie. Seth Carica (Bariton), Thomas Blondelle (Tenor) und Rachel Harnisch (Sopran) sitzen am Tisch im Salon, dessen Inneres nun links in der Hausfront zu sehen ist. Die Rückwand ist eine Glastür. Viel zu sagen hat sich die Familie nicht. Man wartet auf die Ankunft einer weiteren Schwester und ist in Sorge um die Frau im Zimmer nebenan. Wenn die Tür geöffnet wird, ist ein Krankenbett zu sehen, daneben eine Art Kinderkrippe. Im Salon werden dazu nur kurze, abgebrochene Sätze gesungen, weil irgendetwas in diesem Raum alles in Frage stellt. Warum steht die Tür zum Garten offen? Wann war sie geschlossen?

Nur die Streicher begleiten die Singstimmen mit scharfen, unsteten Dissonanzen. Aber der Bass gewinnt an Gewicht und eigener Melodie, denn der blinde Großvater sieht, dass da doch jemand durch die Gartentür gekommen ist. Er treibt die Streicherblöcke voran zu einem weit ausgespannten, sehr lauten Cluster, in den sich jetzt auch Holzbläser einmischen. Die Dissonanz wird damit schreiend bis zur Grausamkeit, bricht ab und gibt einem ätherischen Terzett von Countertenören Raum. Sie singen eine jetzt weit in Vierteltönen ausströmende Totenklage. Die Frau im Nebenzimmer ist verstorben, ihr Bett wird aus der offenen Tür herausgeschoben, und aus der Krippe purzelt sehr lebendig und vornehm gekleidet ein Junge.

Ein neugeborener Säugling ist er nicht. Viel Zeit muss seit dem Tod seiner Mutter im Kindbett vergangen sein. Wie ein Zeitraffer verdichtet die neunte Oper von Aribert Reimann das größtmögliche Thema des Todes so sehr, dass man atemlos dasitzt und zuhören muss, ohne so recht zu begreifen, warum. Es scheint ein Meisterwerk ohne Vorbild zu sein, denn nur so lässt sich erklären, warum ein Theater ohne Handlung mit Personen ohne Eigenschaften eine dermaßen suggestive Kraft entwickelt, die einen unwiderstehlich hineinzieht in eine jenseitige Welt unwirklicher Räume. Sie lässt nicht mitleiden, nicht trauern, sondern beobachten und vielleicht verstehen, was der Tod ist. Sichtbar ist nur das Sterben, der Tod selbst ist unsichtbar, aber er ist überall und geht durch alle Türen.

Ein bloßes Gespenst oder Traumbild ist er natürlich auf keinen Fall. Er ist sehr wirklich. Nach den gefrierenden Streicherakkorden übernehmen melodischer ineinander verwickelte, gelegentlich auch solistische Holzbläser die Begleitung von Stephen Bronk und Thomas Blondelle. Die beiden stehen vor dem nun mit großen, bis zum Boden reichenden Fensterflügeln aus Glas verschlossenen Innenraum des Salons, in dem Vater, Mutter und Töchter stumm einen Weihnachtsbaum schmücken. Blondelle, der Tenor, hat die Leiche eines Mädchens im Fluss gefunden und fragt Bronk, einen Alten aus dem Dorf in Hut und Mantel, ob es gut sei, den Todesfall der Familie zu dieser Zeit mitzuteilen. Die Leute aus dem Dorf werfen Schatten auf die Hauswand, die immer größer werden und zeigen, dass sie die Leiche mit sich tragen. Es lässt sich nicht mehr verschweigen, singt auch Rachel Harnisch, die dazu kommt, und so geht Bronk durch die Tür. Die drei Countertenöre setzen ihren Gesang aus dem Jenseits fort, bis laute Trompeten und Posaunen dem Totenlied ein Ende setzen.

Polyphon und dissonant

Für den dritten Teil hat sich Reimann mehr Zeit gelassen. Pauke und Gong geben den Ton an, in großer Besetzung spielt das ganze Orchester mit, polyphon, dissonant und theatralisch gegliedert. Wieder geht eine Tür auf. Der Junge des Anfangs kommt herein. Zwei Krankenschwestern wollen ihn beschützen vor der bösen Königin im Turm. Noch niemand hat sie jemals gesehen, aber sie spielen und lesen ihm aus dem Kinderbuch das Märchen vor, in dem er selbst seinen Tod findet.

Wie ein Zeitraffer verdichtet die neunte Oper von Aribert Reimann das größtmögliche Thema des Todes

Nach nur 90 Minuten endet das Werk spielerisch, illustrierend, und kehrt dann doch leise, aber unerbittlich in den strengen Klang des Beginns zurück. Der Kreis ist geschlossen, dem unsichtbaren Tod entkommt nichts und niemand. Es ist das Werk eines 81 Jahre alten Mannes, aber kein Alterswerk. Dazu klingt es zu neu und jenseits jeder Konvention, auch der Moderne, als sei es nur ein Anfang.

Der Deutschen Oper muss man dankbar sein dafür, dass sie es gleich beim ersten Mal meisterhaft auf die Bühne gebracht hat. Drei Theaterstücke des belgischen Symbolisten Maurice Maeterlinck („L’intruse“, „L’interieur“ und „La mort de Tintagiles“) bilden das Gerüst. Wer war Maeterlinck? Und was war schon nur der Symbolismus? Man muss es nicht wissen. Der erst 34 Jahre alte russische Regisseur Vasily Barkhatov möchte keine Bildungslücken schließen oder Kunstgeschichte mit der Gegenwart abgleichen, damit sie uns aufregt. Nur die Kostüme von Olga Shaishmelashvili geben Hinweise: 19. Jahrhundert für den Anfang, 50er Jahre für die Mitte, am Ende die Gegenwart mit Krankenhaus und Autowrack. Aber immer lässt Barkhatov einfach nur Sänger und Sängerinnen auftreten, die niemanden darstellen oder erschüttern müssen. Das Ereignis ist die Musik und deswegen ist auch diese Regie ein Ereignis.

Nächste Aufführungen: 18., 22., 25., 31. 10. 2017

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