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Wenn der Nebel schwindet

Die Berliner Künstlerin Ntailan Lolkoki beschreibt in ihrer Autobiografie ihre Genitalverstümmelung und die befreienden Konsequenzen der Rückoperation

Die gebürtige Kenianerin Ntailan Lolkoli will Betroffene ermutigen, über ihre Erfahrungen zu reden Foto: Frank Rothe

Von Esther Shein

Ntailan Lolkoki weiß um das Gefühl, sich selbst zu verlieren, um wiederkehrende Enttäuschungen, begleitet von einer nicht greifbaren Sehnsucht. „Oft hatte ich das Gefühl, dass etwas Wesentliches fehlte“, schreibt sie. Sie begann, sich mit ihren Erinnerungen auseinanderzusetzen. In ihrem Buch „Flügel für den Schmetterling“ spricht sie von einer „Wiedergeburt“. Die Kenianerin erlitt im Alter von 12 Jahren eine Genitalbeschneidung und wurde 30 Jahre später rückoperiert. Nie verlor sie die Hoffnung, ihren Mut und ihren Kampfgeist. Ihr Buch handelt davon.

Ihre Kindheit verbrachte Ntailan Lolkoki, deren Familie zum Stamm der Samburu im Norden Kenias gehörte, umgeben von Tierherden und einer Dorfgemeinschaft inmitten verwandter Völker. Sie erzählt von ihrem Vater, der Polizist war und dessen Geschichten sie gerne hörte, von ihrer Mutter, einer Massai, die sich um sie und ihre Geschwister kümmerte und die Manyattahütte mit einer unbeschwerten Atmosphäre füllte: Erinnerungen an eine liebevolle Zeit.

Zu ihren Kindheitserlebnissen gehört auch ein wichtiges Ritual: eine Feier „zu Ehren“ der Mädchen, die mit Perlen geschmückt und in Lederröcke gekleidet werden und sich mit den Kriegern in Trance tanzen. Die Zeremonie, die sich Muratare nennt, endet damit, dass die Mädchen „Frauen werden“ und damit „heiratsfähig“. Intensive und verlockende Eindrücke für das Kind, das sie damals war. Doch die Feier endet mit einer schmerzhaften Genitalverstümmlung: einem Eingriff mit einer Rasierklinge, einem Messer, einer Glasscherbe oder ähnlichen zur Verfügung stehenden Instrumenten. Danach wird die Wunde mit Pferdehaar oder Tierdarm zugenäht.

Wie die Massai leben die Samburu als Hirten halbnomadisch, sie gehören zu den traditionsbewussten größeren Ethnien, von denen es über 40 in Kenia gibt. Doch auch in anderen kenianischen Ethnien ist die Genitalverstümmelung, selbst wenn sie nicht überall durchgeführt wird, bekannt. Laut einer Studie der Organisation Terre de Femmes sind in Kenia 21 Prozent der weiblichen Bevölkerung im Alter zwischen 15 und 49 Jahren betroffen – ihre künftigen Ehemänner und Schwiegermütter bestehen darauf.

„Für die Mädchen ist die Beschneidung ein besonderer Tag, an dem sie vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben viel Aufmerksamkeit erhalten“, schreibt Lolkoki, die diese Verstümmelung selber in einem Spital, allerdings unter nicht weniger unhygienischen Bedingungen, erlitt. „Der Schmerz war schrecklich gewesen, doch schrecklicher war das Nichts, das ihm folgte.“

In ihrem Buch erzählt sie, wie ihr Leben mit innerlichen Verletzungen infolge der Beschneidung und weiterer Schicksalsschläge verlief. Sie wirkten sich über Jahre hinweg paralysierend auf sie aus, auch in Bezug auf ihren eigenen Körper, den sie nicht annehmen konnte. Ihr seelischer Zustand war erschüttert. Erst viele Jahre später begriff die Autorin, dass ihr unrecht getan worden war.

In die Zeit ihrer Beschneidung fielen weitere Tiefschläge: Ihre Eltern trennten sich, sie wurde von ihrer Mutter verlassen, die sich immer öfter mit selbst gebranntem Schnaps betrank. All das verstärkte die seelische Erschütterung der jungen Frau. Ntailan Lolkoki schildert in ihrer Biografie, wie sehr sie sich nach Zugehörigkeit und Glück sehnte.

Die Zeremonie, die sich Muratare nennt, endet damit, dass Mädchen „Frauen werden“ und damit „heiratsfähig“

Noch als Jugendliche folgt sie ihrem damaligen Freund nach Großbritannien, die beiden heiraten, doch dass Hausfrauenleben macht sie nicht glücklich. Sie fängt an, als Model zu arbeiten, was ihr zumindest nach außen hin einiges Selbstbewusstsein verschafft. Sexualität empfindet sie als unbefriedigend und angstbesetzt. Sie schließt sich einer christlichen Gemeinschaft an und wird eine fanatische Gläubige. Schließlich kehrt sie nach Jahrzehnten nach Kenia zurück, um als Sozialarbeiterin tätig zu sein. Dort lernt sie ihre große Liebe kennen. Sie begegnen sich in Berlin wieder.

Hier erfährt Lolkoki eine tiefgreifende Veränderung – „ mein neues Leben, das ich schon jetzt in jeder Pore meines Körpers fühlen konnte“ – am Tag nach ihrer Rückoperation. Im „Desert Flower Center“ des Zehlendorfer Waldfriede-Krankenhauses wird sie von Ärzten und Psychologen betreut, die auf die Behandlung von weiblichen Genitalverstümmlungen spezialisiert sind.

„Viel später erst wurde mir bewusst, dass mir Angst im Weg stand, eine Angst, die ich während meiner Ehe entwickelt habe. Ich hatte mir zu lange etwas vorgemacht und damit einen großen Fehler begangen. Ich habe mein Leid unnötig vergrößert, weil ich mich selbst klein gemacht hatte, vielleicht war auch meine Kultur die Ursache, die Umgebung, in der ich aufgewachsen bin.“ Ihr Buch führt uns diese Ängste vor Augen, aber die Autorin beschreibt auch, wo und wie sie Kraft schöpfte auf ihrem weiteren Lebensweg.

Ntailan Lolkoki lebt heute als Künstlerin in Berlin und will mit ihrer Autobiografie vor allem andere betroffene Frauen dazu ermutigen, über ihre Genitalverstümmelung zu sprechen, sich Gehör zu verschaffen und den Schritt zu einer Rück­operation zu gehen. Doch nicht nur das: Sie macht auch klar, dass es wichtig ist, den eigenen Wert zu erkennen und sich der eigenen Gefühle und Bedürfnisse bewusst zu werden, um aus schwierigen Momenten Positives ziehen, dem Leben auch an nebligen Tagen mit einem Lächeln begegnen zu können.

Ntailan Lolkoki: „Flügel für den Schmetterling. Der Tag, an dem mein Leben neu begann“, München 2017, 16,99 Euro

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