: Gerotzt, gespuckt, geschnarcht
BÜHNE Europa stirbt, alles zerfällt, die Spaßgesellschaft ist vorbei: Intendantin Karin Beier eröffnet die Spielzeit im Hamburger Schauspielhaus mit der Dystopie „Tartare Noir“
Das gemeinsame Haus ist baufällig, mehr als das. Die Bewohner sind misstrauisch und grob. Der Umgangston ist rau. Oft wird genuschelt, genauso oft wird rumgebrüllt. Die Menschen ekeln und betrügen sich, leben mehr gegen- als miteinander. Das ist das Gesellschaftsbild, das Karin Beier entwirft und in ihrer Groteske „Tartare Noir“ auf die Bühne bringt. Es ist Spielzeitbeginn, und wie die Jahre zuvor eröffnet die Intendantin des Hamburger Schauspielhauses diese mit einer eigenen, assoziativen Arbeit, einer „lustvollen Auseinandersetzung mit den politischen Fragen der Gegenwart“, wie es auf der Theater-Website heißt.
2015 erarbeitete Beier das „Schiff der Träume“ nach Fellini, im vergangenen Jahr „Hysteria – Gespenster der Freiheit“ nach Motiven von Luis Buñuel. Nun dienen Texte des Briten Thomas Peckett Prest aus dem 19. Jahrhundert als Grundlage. Sein Genre waren vornehmlich Schauerromane.
Hier zwinkert kein bisschen Hoffnung um die Ecke. Ein bisschen schief und doch portalhoch sind drei Stockwerke Kuben aufeinandergestapelt. Johannes Schütz hat setzkastenartige Räume für ein Dutzend Schauspieler entworfen. In dem einen wohnt ein Huhn, in dem anderen quietscht das Bett, in dem dritten schäumt die Badewanne über. Und in allen flackert funzeliges Licht, droht jeden Augenblick ein Kurzschluss. Da wird gerotzt, geschnarcht, gespuckt und beim despotischen Schlachter (Ernst Stötzner) im Erdgeschoss eingekauft. Dieser kassiert in blutüberströmter Schürze, während Nachbar Horst (Michael Wittenborn) weinerlich „Es fährt ein Zug nach Nirgendwo“ ins Mikro schmerzt, Edith (Angelika Richter) aus dem ersten Stock eine Sexhotline bestöhnt und der selbst schon zum Vogel mutierte Holger (Jan-Peter Kampwirth) sein Huhn umsorgt.
Diese situative Gleichzeitigkeit ist erst mal ganz hübsch anzusehen, sind doch die Figuren schrill gezeichnet, ereignet sich hin und wieder auch ein freundlicher Slapstick. Spätestens als der „neue Mieter“ (Lars Rudolph) auftritt und ihm zu Ehren ein Grillfest gegeben werden soll, wenn das Grinsen des Schlachters zu breit, der Eifer zu geschäftig wird, denkt man an den französischen Spielfilm „Delicatessen“ von Jeunet und Caro, in dem ein Fleischer mittels Kannibalismus Wohlstand erlangt.
Die Welt, die Karin Beier erzählt, ist ähnlich marode und surreal. Und natürlich auch eine Dystopie. Doch leider füllt die Regisseurin sie bald – und je später der Abend, desto bedeutungsschwerer – mit allerlei Inhalten. Angefangen bei einem allgemeinen Misstrauen unter zombieartigen Nachbarn bebt der moralische Zeigefinger bald zu Sätzen wie „Die Spaßgesellschaft ist vorbei“, „Ich liebe Menschenfleisch“, „Alles zerfällt“ und schließlich „Europa stirbt“. Wenn die zivilisatorischen Werte erst einmal verloren sind, dann wird der Mensch des Menschen Wolf.
Diese Erkenntnis ist schnell erzählt (Meta-Ebenen von Luhmann bis Kristeva sind im Programmheft nachzulesen). Doch Beier hat sich eine detailreiche Ausschmückung vorgenommen. Jede Figur stülpt also einmal ihr Innerstes nach außen. Später darf auch noch ein Fernsehkoch im „Eat Meat“-Shirt auftreten (Yorck Dippe) und seine Hände lustvoll im Mett vergraben. Es wird getanzt (Sayouba Sigué), mit Fleischlappen geworfen und schließlich die gesamte Bühne geflutet. Die Figuren wollten da schon längst zu Vegetariern geworden sein.
Jetzt schlittern sie über den Boden, gieren nach dem frisch bereiteten Tatar, planschen und rufen „Der Kannibalismus löst keine Probleme“ und „Ich habe Fleischeslust“. Schrecklich, sinnfrei, unerträglich! Hätte man es doch bloß wie das Huhn im ersten Stock gemacht: Kopf ins Gefieder und einschlafen. Es kommt an diesem Abend übrigens völlig ungerupft davon.
Katrin Ullmann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen