: Zwei Überraschungen
Cumhuriyet-Prozess Kolumnist Kadri Gürsel wurde nach dem dritten Verhandlungstag entlassen. Das Gericht gestand zudem „Probleme bei der Anklageschrift“ ein
aus Istanbul Gülten Sari
Der dritte Verhandlungstag im Prozess gegen die Mitarbeiter der regierungskritischen türkischen Zeitung Cumhuriyet hielt zwei Überraschungen bereit. Zum einen wurde der Kolumnist Kadri Gürsel (siehe Portrait Seite 2) nach elf Monaten Untersuchungshaft freigelassen. Zum anderen gestand das Gericht ein, dass es „Probleme bei der Anklageschrift“ gibt.
Vor dem Istanbuler Justizpalast standen wie auch schon bei den beiden vorausgegangenen Anhörungen im Prozess gegen 17 Mitarbeiter der Zeitung erneut dutzende Menschen, um sich mit den Angeklagten zu solidarisieren. Auch ein Gegner hatte sich dieses Mal unter die Menschen gemischt: Ein ehemaliger Reporter von Ahsen TV, einem regierungstreuen Fernsehsender, provozierte die Wartenden und beschimpfte sie als „Vaterlandsverräter“. Nach einigem Tumult wurde er von der Polizei weggebracht.
Drinnen wurden am Montag vier weitere Zeugen angehört. Einer von ihnen war Alev Coşkun, ehemaliges Vorstandsmitglied der Cumhuriyet-Stiftung. Die Cumhuriyet-Stiftung ist der Eigentümer der gleichnamigen Zeitung. Dass es bei der Wahl des Stiftungsvorstandes zu Unregelmäßigkeiten gekommen war, gehört neben angeblicher Propaganda für die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) und die Organisation des islamischen Predigers Fethullah Gülen zu den Vorwürfen, die die Staatsanwaltschaft im Prozess gegen die Cumhuriyet-Mitarbeiter erhebt.
Konkret geht es unter anderem um die Wahl Can Dündars im April 2013 zum Stiftungsvorsitzenden. Der mittlerweile in Deutschland lebende ehemalige Chefredakteur hatte sich damals gegen eine linkskemalistische Fraktion durchgesetzt. Die Unterlegenen wandten sich danach wegen Unregelmäßigkeiten an die staatliche Stiftungsaufsicht und reichten im Februar 2016 Klage ein. Genau darauf stützt die Staatsanwaltschaft heute im Wesentlichen ihre Anklage.
Coşkun wiederholte zwar den Vorwurf, dass es im April 2013 bei einer Abstimmung der Stiftung Regelverstöße gegeben habe. Er habe daraufhin gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen im Februar 2016 Anzeige erstattet und der Prozess sei zu ihren Gunsten entschieden worden. Allerdings betonte er auch, dass dieser Vorgang nichts mit dem gegenwärtigen Prozess zu tun habe und davon strikt getrennt werden sollte. „Meine Freunde sind keine Terroristen. Sie sind auch keine Mitglieder der Gülen-Sekte. Ich fordere, dass ihr Prozess ohne ihre weitere Inhaftierung fortgesetzt wird“, sagt er.
Ein weiterer Zeuge, Rıza Zelyut, Autor der Zeitung Aydınlık Gazetesi, sagte, dass er niemanden mit der Mitgliedschaft der Gülen-Organsiation belasten werde. Dennoch bestehe er darauf, dass versucht worden sei, durch die Stiftung Macht über die Cumhuriyet zu erlangen: Es sei nicht normal, dass auf der Website einer Zeitung „acht Nachrichten über die HDP und Demirtas“ (Chef der prokurdischen Partei HDP und derzeit im Gefängnis) gleichzeitig laufen könnten.
Nachdem alle Zeugen vernommen wurden, verlasen die Anwälte ihre Verteidigungsschriften. Und dann passierte etwas sehr Außergewöhnliches: Richter Dağ gestand ein, dass es „Probleme bei den Anklageschriften“ gegeben habe. Bevor das Gericht sein Urteil verkündete, hatten nämlich bereits die regierungsnahen Zeitungen Star und Milliyet das Urteil gemeldet: die weitere Inhaftierung der Angeklagten. Als einer der Anwälte dem Richter diese Vorabmeldung vorlas, brach im Gerichtssaal Unruhe aus. Die Zuschauer zeigten dem Richter ihre Handys, auf denen Screenshots der Meldung zu sehen waren. Ahmet Şık, der prominenteste Angeklagte, warf dem Gericht vor, Informationen an „bestimmte Medien“ herauszugeben. Der Richter ließ am Ende wissen, dass er Anzeige gegen die Zeitung Star erstatten werde.
Der Prozess wird am 31. Oktober fortgesetzt.
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