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Repräsentanten der Normalität

Gesundheit Eine Schule für kranke Kinder: Das Hamburger Bildungs- und Beratungszentrum für Pädagogik bei Krankheit/Autismus kümmert sich um erkrankte Kinder und Jugendliche, die für eine längere Zeit nicht in die Schule gehen können

von Birk Grüling

Auf den Fluren der Kinderkrebsstation des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf riecht es nach frischem Apfelkuchen und Desinfektionsmitteln. Schwestern eilen im Laufschritt vorbei, eine Gruppe junger Ärzte beugt sich mit ernster Miene über die nächste Krankenakte der Visite. Ein sichtlich nervöser Vater fragt zum zweiten Mal nach einem freien Bett.

Für seine Tochter ist es der erste Tag ihrer Chemotherapie. Im Aufenthaltsraum, nur eine Glasscheibe vom hektischen Krankenhausalltag entfernt, sitzt Erik* und beugt sich über sein Mathebuch. In der Textaufgabe teilt ein Mann seinen Lottogewinn auf. Ein Kleid für die Frau, ein paar Tage am Meer, ein neues Auto. Feinsäuberlich schreibt der 10-Jährige die Zahlen untereinander, zieht mit dem Lineal einen Strich und subtrahiert. Lautlos formen seine Lippen die Zahlen. Mathe ist sein Lieblingsfach, erklärt Erik stolz. Meistens schreibe er Einsen. Jedenfalls wenn er mitschreiben kann.

Im Moment ist daran kaum zu denken, seine Mitschüler hat er seit einigen Wochen nicht mehr gesehen, wie immer bei der Chemotherapie. Sein Tumor sitzt in der Niere. Die Chancen auf Heilung stünden gut, sagen die Ärzte. Die Behandlung ist trotzdem hart und langwierig. Hinter seinem Stuhl steht ein Wagen mit Infusionen, zwei Schläuche verschwinden unter seinem T-Shirt. „Er hat noch 297 Euro übrig“, verkündet Erik. Jetzt noch einen Antwortsatz, seine Lehrerin Margret McGonagle tippt auf die Kästchen des Matheheftes. So lange der 10-Jährige in der Klinik ist, kommt die Pä­dagogin mit den wachen Augen und dem kurzen, grauen Haar regelmäßig vorbei. Eine halbe Stunde, irgendwann zwischen Therapien und Visiten, rechnen sie gemeinsam, üben unregelmäßige Verben oder ­schreiben einen Aufsatz.

McGonagle ist Lehrerin am Hamburger Bildungs- und Beratungszentrum für Pädagogik bei Krankheit/Autismus. Das Zentrum kümmert sich um etwa 260 Kinder und Jugendliche, die wegen einer körperlichen oder psychischen Erkrankung für längere Zeit nicht oder nur zeitweise zur Schule gehen können. Die Pädagogen arbeiten nicht nur in Krankenhäusern, sondern auch in Kinder- und Jugendpsychiatrien oder unterrichten die Schüler zu Hause.

Ihre Arbeit geht in vielen Fällen über reine Wissensvermittlung weit hinaus. Die Lehrer halten auch den Kontakt zur Schule, helfen beim Wiedereinstieg in die Klasse oder vermitteln bei Problemen. Auch ­McGonagle und ihre Kollegin telefonieren regelmäßig mit den Klassenlehrern, sprechen über Unterrichtsstoff und informieren die Eltern über einen möglichen Nachteilsausgleich für das Kind. Außerdem stehen sie im engen Austausch mit Ärzten, Therapeuten und dem psychosozialen Dienst der Kinderkrebsstation.

„Ich versuche, die jungen Patienten und ihre Eltern schon in den ersten Tagen in der Klinik zu sehen. Ich stelle mich kurz vor, erkläre das Angebot und frage nach Unterrichtswünschen“, sagt sie. Feste Stundenpläne gibt es in der Klinikschule nicht. Die Schüler wechseln häufig und mit ihnen die Inhalte. Auf ­McGonagles Schreibtisch liegt eine Liste mit jungen Patienten der verschiedenen Kinderstationen. Unterrichtet werden nur Kinder und Jugendliche, die für einige Wochen in der Klinik bleiben oder wegen chronischer Erkrankungen immer wieder kommen müssen.

Morgens wirft die Lehrerin einen prüfenden Blick auf die Liste und packt dann ihren Rollkoffer mit Materialien und Schulbüchern. Unterrichtet wird am Krankenbett oder in Aufenthaltsräumen, eigene Unterrichtsräume gibt es in der Klinik nicht. 20 Minuten Englisch hier, eine halbe Stunde Mathe da, etwas Deutsch oder Biologie, je nachdem wie viel Zeit der Therapieplan und die körperliche Verfassung der Kinder zulassen. Manchmal gelingt es auch, intensiv zwei Stunden am Stück zu arbeiten.

Das Bearbeiten des Unterrichtsstoffs ist nicht das einzige Ziel. Der Unterricht am Krankenbett ist für viele Patienten eine willkommene Abwechslung im Klinikalltag und irgendwie auch ein Fingerzeig: Er steht für eine Zukunft ohne Krankheit. Manchmal fühle sie sich deshalb wie eine Repräsentantin der Normalität, sagt ­McGonagle nachdenklich.

Die Klinikschule ist nur ein kleiner Teil der Arbeit des Bildungs- und Beratungszen­trums für Pädagogik bei Krankheit/Autismus. Durch die Einsparungen im Gesundheitssystem verkürzen sich die Klinikaufenthalte zusehends. „Der Unterricht am Krankenbett ist eher ein Auslaufmodell. Wir unterrichten deutlich mehr Schüler zu Hause“, erklärt Schulleiterin Mona Meister. 40 ihrer insgesamt 85 Lehrer arbeiten im mobilen Unterricht. Mehrmals pro Woche besuchen sie die Schüler zu Hause und holen verpassten Unterrichtsstoff nach. Außerdem gibt es an verschiedenen Standorten in der Stadt offene Lerngruppen.

Der Unterricht am Krankenbett isteine willkommene Abwechslung im Klinikalltag und ein Fingerzeig: Er steht für eine Zukunft ohne Krankheit

Auch Michael* bekommt regelmäßig Besuch von einem Lehrer. Durch die anstrengende Behandlung fühlt sich der Neunjährige oft kraftlos und hat Schwierigkeiten, sich über längere Zeit zu konzentrieren. Nach der Intensivbehandlung ermöglicht ihm der Nachteilsausgleich, nur stundenweise in der Schule zu sein. Für Klassenarbeiten hat er dann etwas mehr Zeit als seine Klassenkameraden. Verpasste Stunden werden mit Hausunterricht ausgeglichen – eng abgestimmt mit seiner Grundschule. „Die Schüler sollen den Kontakt zu den Mitschülern und den Lehrern nicht verlieren. Der Nachteilsausgleich nimmt gleichzeitig den Druck von den Kindern“, sagt Meister. Bei Michael klappe das bestens. Seine Noten seien gut und in der Klasse sei er beliebt. Einige seiner Mitschüler besuchten ihn sogar regelmäßig im Krankenhaus.

Neben dem Unterricht im Krankenhaus und bei den Schülern zu Hause betreuen die Lehrer des Bildungszentrums auch junge Patienten in acht Hamburger kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen. Es sind Schüler wie Marco*. In seiner alten Klasse wurde er gemobbt, dazu kamen familiäre Probleme. Psychologen und Beratungslehrer konnten ihm bald nicht mehr helfen. Es wurde alles zu viel für den Gymnasiasten. Morgens vor der Schule quälten ihn unerträgliche Bauchschmerzen, oft blieb er tagelang im Bett. Als letzten Ausweg droht er mit Selbstmord und kam in die Jugendpsychiatrie. Fast anderthalb Jahre blieb er in intensiver Behandlung.

Die Lehrer des Beratungszentrums halfen ihm, den Anschluss nicht zu verlieren. Im Laufe der Zeit stabilisierte sich sein Zustand und er konnte in eine neue Schule wechseln. „Unser Ziel ist es, die Schüler so schnell wie möglich zurück in die Schule zu bringen. Bei psychischen Erkrankungen ist das oft ein langwieriger Prozess“, erklärt Meister. Gerade bei Angststörungen oder traumatischen Erfahrungen wie Mobbing hilft oft nur ein Schulwechsel. Um den Einstieg in die neue Umgebung zu erleichtern, wurde ein „Back to School“-Team“ gegründet. Die vier Pädagogen stehen den Schülern, Lehrern und Eltern in der ersten Zeit mit Rat und Tat zur Seite. Sie begleiten die Schüler im Unterricht, klären das Umfeld über die Auswirkungen der Erkrankungen auf, kümmern sich um einen Nachteilsausgleich und vermitteln bei Problemen. Bei Marco ist das Hamburger Konzept aufgegangen. Auf dem Schreibtisch von Mona Meister liegt eine Kopie seines Abiturzeugnisses – Notendurchschnitt 1,3. Im Oktober wolle er sein Ingenieurwissenschaftsstudium beginnen, am liebsten in Berlin, schrieb Marco in seiner Dankes-E-Mail.

*Schülernamen geändert

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