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„Wir neigen dazu, Menschen als rational zu betrachten“

Schulden Steve Keen hat als einer von wenigen Ökonomen die letzte Wirtschaftskrise kommen sehen. Er weiß auch, wie man die nächste verhindern könnte

Steve Keen

64, ist ein australischer Ökonom. Schon 2005 warnte er vor der Finanzkrise. Seit 2014 leitet er die wirtschaftswissenschaftliche Abteilung der Kingston Uni­versity in London. Er ist Kritiker der neoklassischen Theorie, aber auch des Marxismus.

taz.am wochenende: Herr Keen, warum hat kein einziger Nobelpreisträger die Finanzkrise vorhergesehen?

Steve Keen: Weil keiner sich mit den Instabilitäten befasst hat, die eine kapitalistische Geldwirtschaft kennzeichnen. Kredite und Spekulation spielten keine wichtige Rolle oder wurden gänzlich ignoriert.

Selbst Eugene Fama bekam 2013 noch einen Nobelpreis, obwohl die Finanzkrise seine Theorie der „effizienten Finanzmärkte“ widerlegt hatte.

Der Wirtschaftsnobelpreis ähnelt dem Nobelpreis für Literatur: Es geht nicht um die Wirklichkeit. Die Auszeichnung wird vergeben, um die gescheiterte neoklassische Theorie am Leben zu erhalten.

Aber auch Kritiker wurden ausgezeichnet: Als Joseph Stiglitz und Paul Krugman den Preis erhielten, wurden Vorwürfe laut, das Nobelkomitee würde nach „links“ rücken.

Es geht nicht um links gegen rechts, sondern um richtig versus falsch. Stiglitz und Krugman sind zwar Kritiker des Mainstreams – benutzen aber dieselben unbrauchbaren Methoden. Auch sie glauben, dass es ein Gleichgewicht geben könnte, und behandeln die Geldwirtschaft, als wäre sie ein Tauschhandel. Geld und Banken spielen keine dominante Rolle.

Warum hält sich der Mainstream so hartnäckig?

Wir neigen dazu, Menschen als rational zu betrachten. Sie sind es aber nicht, sondern teilen Glaubenssätze. Ein berühmter Spruch sagt: „Die Wissenschaft kommt nur durch Begräbnisse voran.“ Momentan wollen die meisten Ökonomen immer noch beweisen, dass der Kapitalismus sein Optimum erreicht, wenn der Staat nicht eingreift.

Neoklassiker könnten Ihnen vorwerfen, dass Sie ein „linker“ Gläubiger der postkeynesianischen Tradition seien.

Politisch könnte man mich tatsächlich links nennen. Ich bin für die Gleichstellung der Homosexuellen, die Legalisierung von Marihuana. Aber als Ökonom versuche ich, den Kapitalismus so realistisch wie möglich zu beschreiben.

Wo richtet der neoklassische Mainstream derzeit die größten Schäden an?

Die meisten Ökonomen ignorieren die sogenannte Schulden-Deflation: Wir haben weltweit zu viele Privatschulden. Großbritannien ist ein gutes Beispiel: Als Margaret Thatcher 1979 an die Macht kam, beliefen sich die Privatschulden auf 70 Prozent der Wirtschaftsleistung. Kurz vor der Finanzkrise waren es 195 Prozent. Seit dem Crash dümpelt die Wirtschaft, weil viele Briten den Konsum einschränken, um ihre Schulden zurückzuzahlen. Doch es sind noch immer 170 Prozent.

Wie lautet Ihr Vorschlag?

Die Zentralbanken könnten die Privatschulden annullieren und die reale Wirtschaft unterstützen. Aber sie tun das Gegenteil. Um die Konjunktur anzukurbeln, hat die Bank of England 200 Milliarden Pfund in einem Jahr ausgegeben, um Anleihen aufzukaufen. Die Konjunktur schwächelt trotzdem; es profitierten nur die Finanzmärkte. Die Preise für Anleihen, Aktien und Immobilien sind stark gestiegen. Dies hat die Ungleichheit verschärft – für die Wohlhabenden war es ein Extraprofit von 200 Milliarden Pfund. Es wäre effektiver, dieses Geld an die Bürger auszuzahlen: Jede Familie würde etwa 100.000 Pfund bekommen. Damit könnten sie ihre Schulden zurückzahlen. Der Konsum würde anziehen, die Krise wäre vorüber.

Ein Rezept auch für die Eurozone?

Natürlich. Die Europäische Zentralbank gibt ja sogar 60 Milliarden Euro im Monat aus, um Anleihen aufzukaufen. Wieder profitieren nur die Reichen, während die Konjunktur weiter schwächelt.

Rechnen Sie mit neuen Finanzkrisen?

Das Risiko ist sehr hoch in China, Südkorea, Kanada, Australien, Belgien, Norwegen, Schweden, der Schweiz und wahrscheinlich Frankreich. In Norwegen belaufen sich die privaten Schulden auf 245 Prozent der Wirtschaftsleistung. In Kanada, Südkorea und Australien sind es 210 bis 220 Prozent.

Wann kommt der nächste Crash?

In ein bis drei Jahren.

Interview Ulrike Herrmann

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