Türkei

Ahmet Şık soll sich vor Gericht verteidigen. Stattdessen greift der prominente Investigativjournalist das System Erdoğan frontal an

Der Prozess, bei dem der Journalismus vor Gericht steht

VERFAHREN Neben Ahmet Şık sind 16 weitere Cumhuriyet-Mitarbeiter angeklagt, darunter Geschäftsführer, Autoren, Redakteure und Anwälte der ältesten Zeitung der Türkei

Demonstration für die angeklagten Cumhuriyet-MitarbeiterInnen vor dem Gericht in Istanbul Foto: Vedat Arık/Cumhuriyet

ISTANBUL/BERLIN taz | Am Donnerstag fand der vierte Verhandlungstag im Prozess gegen die Mitarbeiter der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet (deutsch: Republik) statt. Ihnen wird „Unterstützung terroristischer Organisationen“ vorgeworfen. Angeklagt sind Geschäftsführung, Autoren, Redakteure und Anwälte der Zeitung, insgesamt 17 Personen.

Seit Montag verlesen die Angeklagten ihre Verteidigungsschriften im Istanbuler Justizpalast, der sich im Stadteil Çağlayan befindet, darunter der ehemalige Chefredakteur Murat Sabuncu und der renomierte Investigativjournalist Ahmet Şık.

Am Donnerstag standen die beiden langjährigen Autoren Hikmet Çetinkaya und Aydın Engin sowie der Vorsitzende der Verlagsstiftung Orhan Erinç vor Gericht, die anders als die üblichen Angeklagten aufgrund ihres hohen Alters die Zeit bis zum Prozess nicht im Gefängnis verbringen müssen. Es wird erwartet, dass am Freitag ein Urteil gefällt wird in dem Verfahren, das in der türkischen Öffentlichkeit als der Prozess bekannt wurde, bei dem „der Journalismus vor Gericht steht“.

Hikmet Çetinkaya wies gleich zu Beginn seiner Verteidigungsrede darauf hin, dass er seit 1966, also 51 Jahren, für die Cumhuriyet arbeitet. „Eine meiner ersten Nachrichtentexte handelte von Fethullah Gülen. Wir gehören nicht zu jenen Journalisten, die Lobreden auf diesen Mann schrieben, wir haben seine wahren Absichten aufgedeckt und dabei journalistisch gearbeitet“, so Çetinkaya.

Nach Çetinkaya trat der ebenfalls langjährige Autor Aydın Engin vor den Richter. Engin, der seine Verteidigung nur sehr kurz hielt, sagte: „Ich halte es für sinnlos, mich bezüglich meiner neun Artikel zu erklären, die in der Anklageschrift wie Beweismaterialien angeführt werden. Die Tatsache, dass meine Kollegen und ich in solch einem Fall auf die Anklagebank gezerrt werden, beschämt und schmerzt mich im Namen der Justiz und meines Landes.“

Der 80-jährige Stiftungsvorsitzende Orhan Erinç hingegen nahm Stellung zu den Vorwürfen, die Redaktionslinie der Cumhuriyet hätte sich zugunsten terroristischer Organisationen verändert. Erinç betonte, dass die Berichterstattung der Zeitung sich mit den tagesaktuellen Ereignissen in der Türkei verändere. Das sei jedoch nichts, das vor einem Strafgericht diskutiert werden sollte.

„Weder hat sich die Redak­tions­linie verändert noch wurden die Kemalisten aus der Zeitung gedrängt. Die Redaktionslinie der Cumhuriyet ist für alle offensichtlich: Sie steht für Demokratie und universelle Menschenrechte und setzt sich für diese ein. Unsere Zeitung unterscheidet dabei nicht nach Religion, Geschlecht oder ethnischer Herkunft und spielt diese Gruppen sicherlich nicht gegeneinander aus oder erklärt diese zu Zielscheiben“, so Erinç.

Vor dem Gerichtsgebäude stehen seit Prozessbeginn täglich Hunderte Menschen, um ihre Solidarität mit den Angeklagten zu bekunden, darunter deren Angehörige und FreundInnen sowie viele Cumhuriyet-LeserInnen, die diverse Aktionen wie eine „Mahnwache für die Gerechtigkeit“ organisieren. Das „Koordinationskomitee für den Cumhuriyet-Fall“ fordert, das Verfahren gegen die Zeitungsmitarbeiter umgehend einzustellen.

Canan Coşkun UND
Ali çelikkan