: Sommer der Selbstverzwergung
Schlagloch von NORA BOSSONG Filterkaffee und Gesichtserkennung: Hipsterfreuden im Tarifgebiet AB
Jahrgang 1982, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Zu ihren wichtigsten Romanen zählen „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ (2012) und „36,9°“ (2015). Am 20. Februar erschien bei Hanser ihr Reportageband „Rotlicht“.
Es hat sich mittlerweile herumgesprochen: In Berlin, der aufregendsten Stadt mindestens der Welt, so großartig, dass ein einziger Superlativ nicht für sie genügt, wird ab und an Englisch gesprochen. Klar eigentlich, denn Berlin ist das, was New York einmal war, was Stuttgart nie werden wird und was manche ein bisschen verkrampft finden, nicht nur Jens Spahn, ich ehrlich gesagt allmählich auch. Wer in Berlin ist, ist ein Wert an sich oder, wie Spahn es ausdrückte, Teil einer provinziellen Selbstverzwergung.
Natürlich kann man sich über Spahns Vorliebe für die deutsche Sprache lustig machen. Und doch geht es um mehr als den Wettstreit zwischen Spahn-Deutsch, Berlin-Mitte-Englisch und Mühlheim-Italienisch. Hinter dem Unbehagen an einer Hauptstadt, die zwar weltoffen ist, aber doch mitunter so verliebt in die eigene Weltoffenheit, dass es fast zur Weltvergessenheit gerät, steht, wie ich glaube, eben auch die Frage danach, ob sich in der Bundesrepublik, für die das föderalistische Prinzip seit je grundlegend gewesen ist, nicht doch ein neuer Zentralismus einschleicht mit allen narzisstisch blinden Flecken.
Weit weg vom Spaßbad
Dabei kann Berlin auch anders, nämlich im August. Für Vergnügen muss man jetzt bis nach Eberswalde fahren, dafür wirbt ein Plakat an einer S-Bahn-Station im Norden Berlins. In Eberswalde nämlich gibt es ein Spaßbad. Als die Bahn wieder anfährt, um meine Mitpassagiere und mich zurück ins Herz der Metropole, also des Universums zu ruckeln, bin ich mir mit den Superlativen nicht mehr ganz so sicher. Spaßbad. Eberswalde. Und meine Mitfahrer schlafen auch gerade mit ihrem Berliner Kindl in der Hand ein.
Zwischen Humboldthain und Nordbahnhof habe ich die klammheimliche Vermutung, dass die Menschen, die die Behauptung des unfassbar tollen Berlins in die Welt gesetzt haben, im Immobiliengeschäft oder Hotelgewerbe tätig sind, und kann jede Guerillataktik nur begrüßen, die mit diesem selbstgerechten Bild ins Gericht geht. Oder einfach dazu aufruft, häufiger mal nach Eberswalde zu fahren.
Schade nur, dass es die meisten Neuberliner gar nicht mitbekommen, denn die sind gerade im Urlaub in Südfrankreich, Süditalien oder wenigstens Süddeutschland. Irgendwas mit Süden halt.
Auch Berlin hat, wie sollte es anders sein, einiges zum Thema Süden zu bieten, den Bahnhof Südkreuz zum Beispiel. Dort gibt es jetzt eine Videoüberwachung mit Gesichtserkennung in der Testphase. Ein Areal ist abgesperrt, durch das dreihundert freiwillige Versuchspersonen laufen sollen, um sich erkennen zu lassen, was sicherlich mindestens so viel Spaß macht wie die Riesenrutsche in Eberswalde. Man könnte das Vorhaben aufgrund des doch recht vehementen Eingriffs in die Privatsphäre von vollkommen unbescholtenen Passanten kritisieren, ja, man könnte ziemlich wütend werden. Hätte man nicht gerade so viel mit den eigenen Projekten zu tun!
Retro ist übrigens nicht nur in Berlin groß in Mode: Wer morgens das Radio einschaltet, kann sich in diesem Sommer fast täglich eine Folge von „Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ anhören. In Berlin merkt man das etwas später als im Rest der Welt, denn wenn wir nicht gerade einen Filterkaffee bestellen –so much better than espresso! –, sind viele von uns hauptberuflich mit sich selbst beschäftigt.
Selbst das politische Engagement ist mitunter nur der eigenen Komfortzone gewidmet: Einmal laut in die Trillerpfeife geblasen auf einer Demo gegen Mieterhöhung, weil man gerade selbst auf Wohnungssuche ist. Ich habe derzeit auch Ärger mit meinem Vermieter, aber womöglich ist ein Besuch beim Mieterschutzbund doch noch kein gesamtgesellschaftlicher Einsatz und mein Verbleib in dieser Wohnung, damit sie nicht totsaniert wird, kein bewegender Akt des zivilgesellschaftlichen Widerstands. Und vielleicht, vielleicht haben wir das mit dem Wohlstand für alle als selbstverständliche Frei-Haus-Lieferung etwas zu lange geglaubt und sind ein bisschen blind geworden für die Veränderungen, die im Rest der Republik schon viel weiter fortgeschritten sind, von der restlichen Welt ganz zu schweigen.
Ich merke, wie ich selbst träge werde in dieser Stadt, die mir einzuflüstern scheint, ich bräuchte auf andere Gegenden, andere Städte, andere Milieus gar nicht zu schauen. Hier ist ja alles passiert! Zum Beispiel ist die Berliner Mauer quer durch diese Stadt gebaut und auch wieder abgerissen worden. Statt darüber nachzudenken, ob wir derzeit ein Ende des Endes des Kalten Kriegs beobachten müssen, was sich womöglich ganz woanders zeigt als in Berlin, machen wir uns lieber über die Händler lustig, die an den Stätten der ehemaligen deutsch-deutschen Teilung heute puschelige Sowjetmützen mit Ohrenklappen verkaufen, als wäre die Mode die größte Bedrohung der 1970er Jahre gewesen.
Auf so einen Touristennepp fällt natürlich nicht herein, wer in Berlin einen Wohnsitz hat. Stimmt schon – aber wird uns Weltgeschichte nicht auch manchmal zum bloßen modischen Accessoire?
Fahrscheine ziehen mit Wowi
Dabei kann man von Berlin durchaus etwas lernen, und zwar genau dann, wenn sich diese Stadt und ihre Bewohner nicht so ernst nehmen oder nicht mehr so ernst nehmen können. Ab und an habe ich in diesem Sommer Klaus Wowereit am Fahrscheinautomaten meiner U-Bahn-Station getroffen. Wir wohnen nicht weit voneinander entfernt. Ein weiterer durchschaubarer Grund meines Vermieters, mich aus der Wohnung hinauszuwünschen, denn wie viel könnte er mit diesen Quadratmetern verdienen, hätte er nur einen Regierungschef a. D. in diesen Räumen.
Jedes Mal imponierte mir die selbstverständliche Geschicklichkeit, die der ehemalige Berliner Bürgermeister beim Bedienen des Automaten zeigte, die bescheidene Kompetenz des während seiner Amtszeit nicht unbedingt für Bescheidenheit berühmten Politikers.
Über kurz oder lang, schien er mir zu bedeuten, sind wir in Berlin eben alle U-Bahn-Fahrer und die Knöpfe, die wir drücken, sind hier nicht rot, sie lösen keine Bomben aus, sondern lediglich einen Fahrschein „Erwachsene Tarifgebiet AB“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen