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Gepflegt außer Kontrolle geraten

Klassiker Das Bürgertum weiß seine Lügen als schöner Schock sehr zu genießen: Luis Buñuels „Belle de Jour“ mit Catherine Deneuve kommt in digital restaurierter Form wieder ins Kino

Mit der sexuellen Wunschproduktion Ernst machen: Catherine Deneuve in „Belle de Jour“ Foto: Studiocanal

von Ekkehard Knörer

Eine Fahrt mit der Pferdekutsche, bei der die Schellen der Pferde überlaut klingeln, durch den herbstlichen Park. Es sitzen in der Kutsche die schöne Séverine (Catherine Deneuve) und ihr Mann Pierre (Jean Sorel). Die Fahrt endet, Pierre reißt seiner Frau die Kleider vom Leib, die zwei Lenker der Kutsche zücken die Peitschen und schlagen auf Séverine ein. So beginnt Luis Buñuels Film „Belle de Jour“, vor fünfzig Jahren eine Sensation in den Kinos, Gewinner des Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig, ein Klassiker, der nun zum Jubiläum in einer hoch aufgelösten restaurierten Digitalfassung noch einmal in die Kinos gelangt.

Die erste Szene, mit Kutsche, mit Schellen, mit Peitschen, ist Séverines Tagtraum. Der Schellenklang wird wiederkehren, an den unerwartetsten Stellen, im Realen, in der Fantasie, ein Signal des sexuellen Begehrens der Frau, das anders will, als es in der bürgerlichen Vorstellung soll. Denn bürgerlich wie nur was sind Séverine und ihr Mann. Kühl und kontrolliert bis weit in die hochgesteckte Frisur ist Séverine. Ein Arzt, die Zigarette lässig im Mund, geduldig, erfolgreich, arbeitsam: Pierre. Er spricht auch Latein: Semen retentum venenum est. Der zurückgehaltene Samen ist Gift.

Fabelhaft sind Séverines Kleider, für den Film von Yves Saint Laurent extra geschneidert. Voll teurer Möbel, mit Hang zur Chinoiserie, ist die Wohnung. Getrennt jedoch stehen im Schlafzimmer die Betten. Pierre will zu Séverine, doch sie weist ihn zurück. Sie braucht Zeit, sagt sie. Seinem Wunsch nach einem Kind weicht sie aus. Séverine ist nicht zu Hause im eigenen Leben, in der eigenen Ehe, in der eigenen Wohnung.

Signal der Verstörung: Dinge gehen zu Boden, zu Bruch. Sie folgt dann dem Läuten ihrer sexuellen Wunschproduktion und verlässt Leben, Ehe, Wohnung, erst in der Fantasie, dann im Realen, wenn auch nur auf Zeit. Zwischen das Wirkliche, das Séverine nicht befriedigt, und die Fantasien, die sie sich erlaubt, tritt ein Mann mittleren Alters namens Husson (Michel Piccoli) und erzählt von einem Nobelbordell, geleitet von Madame Anaïs. Hier zieht es Séverine hin. Sie zögert, wehrt ab, dann lässt sie zu, was ihr widerfährt.

Von zwei bis fünf steht Séverine zur Verfügung, Belle de Jour, Schöne des Tages. Zwar öffnet sie das Haar, doch wahrt sie die Fassung. Zunächst ist das außereheliche Leben als Prostituierte mit der bürgerlichen Existenz noch bestens im Takt. Es zieht sie hin zu den Männern, die sie nicht kennt, zu Männern, die ihr Befehle geben, zu Männern, die rätselhafte aphrodisische Kästchen mitbringen und auch zu einem, der sie mit in sein Schloss nimmt, der sie als schöne Leiche in einen Sarg steckt und dann darunter rumort (eine schwarze Messe, die dabei auch noch stattfinden sollte, hat die Zensur leider verboten); vielmehr zieht es sie weniger zu den Männern als solchen, denn die sind einer nach dem andern erst mal egal, sondern es zieht sie zur eigenen Auslieferung an die Situation, in der die Männer befehlen, in der sie gehorcht. Vor einem erfolgreichen Arzt, der herumkommandiert und gequält werden will, flieht sie.

Dann aber taucht einer auf und ist die Verkörperung dessen, was sie gesucht hat, geradezu die Ausgeburt ihrer Wünsche: Marcel (Pierre Clementi), ein sehr attraktiver, sexuell aggressiver Kleingangster mit Dolch im Stock, einer Narbe am Rücken und goldenen Zähnen im Mund. Das geht nicht gut. Wenn die Fantasie Wirklichkeit wird, perforiert sie fast mit Notwendigkeit die Wand zwischen bürgerlicher Existenz und sexueller Wunschproduktion.

Die Versuchsanordnung, als die man „Belle de Jour“ am besten begreift

In den Film selbst fährt dieser Bruch als mehrfaches Zitat von Godards „Außer Atem“. Was nur, wie vieles andere, auf die große Artifizialität der Versuchsanordnung verweist, als die man „Belle de Jour“ am besten begreift. Ist es ein Paradox oder nicht, dass auch Buñuels Film selbst nie den Eindruck macht, außer Kontrolle zu geraten? Er ist auf die gepflegteste Weise transgressiv.

Wahrscheinlich war das auch das Geheimnis seines Erfolgs bei dem Publikum, dessen Lebenslügen er vorführen wollte: Das Bürgertum wusste diese Lügen, wenn sie ihm als schöner Schock verabreicht werden, schon immer sehr zu genießen. Und es ist wiederum die Artifizialität, die den Film über die Jahrzehnte vor dem Altern geschützt hat. Er will so wenig von seiner Zeit sein, dass er sie recht unbeschadet hinter sich lässt.

„Belle de Jour“ ist dennoch eine eigenartige Konstruktion: Drei Männer (Joseph Kessel, der die Romanvorlage schrieb, Drehbuchkoautor Jean-Claude Carrière und Regisseur Luis Buñuel) fantasieren die sexuellen Fantasien einer Frau, die Catherine Deneuve dann für sie ausagiert. Die Männer haben dafür viel recherchiert. Jede der im Film gezeigten masochistischen Fantasien wurde ihnen so oder ähnlich von Frauen erzählt. Absurd bleibt es doch. Und in seiner strahlenden Schönheit zugleich ein faszinierender Film.

„Belle de Jour“. Regie: Luis Buñuel. Mit Catherine Deneuve, Jean Sorel u. a. Frankreich 1967, 101 Min.

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