Die Hälfte der Straße

radsport Das Frauenrennen der Tour de France heißt La Course. In diesem Jahr führte es erstmals nicht über die Champs-Élysées in Paris. Stattdessen gab es eine Bergetappe am Izoard in den Alpen. Das fand Anklang

Bei der Arbeit am Berg: La-Course-Siegerin Annemiek van Vleuten Foto: imago

aus Marseille Tom Mustroph

Frauen müssen früh aufstehen im Profiradsport. Die Cracks der Tour de France schaufelten sich noch beim Frühstück die Nudelportionen in den Rachen, als im Startvillage anstelle der großen Luxusbusse der Tourteams ein paar Caravans und Pkws einrollten, von denen Rennräder abgeladen wurden.

Wenn eine Veranstaltung auf dem Terrain der Tour de France stattfindet, aber nicht deren gigantische Dimensionen hat, dann handelt es sich um La Course, das Frauenrennen der Tour.

Das wurde 2014 aus der Taufe gehoben und drei Jahre lang als Rundstreckenrennen im Stadtzentrum von Paris ausgetragen. Das Ambiente auf den Champs-Élysées begeisterte die Radsportlerinnen, der sportlich wenig anspruchsvolle Flachkurs eher nicht.

Also ließ sich die Tourdirektion etwas Neues einfallen, was, immerhin, für Sensibilität spricht. „Wir hatten drei Mal die Champs-Élysées. Wir hatten gedacht, es wäre schön, den Frauen andere Sachen anzubieten“, erzählt Thierry Gouvenou, Renndirektor der Tour und ASO-Chef von La Course. „Und dann dachten wir, die Bedeutung des Izoard zu nutzen.“ Der 2.360 Meter hohe Pass in den französischen Alpen wurde also die neue La-Course-Strecke – am ersten Tag. „Einige Frauen haben dann aber gesagt: ‚Ach, das ist nicht schön. Das sind ja nicht mehr die Champs-Élysées. Es braucht noch etwas mehr.‘ Und dann haben wir gesagt, wir machen ein Zeitfahren in Marseille, aber ändern dabei das Format. Wir machen ein Verfolgungsrennen, um die Vergleiche mit den Männern zu vermeiden. Und auch, um etwas Dynamischeres zu haben“, erzählt Gouvenou.

Also gab es die Kletterei hoch zum Izoard am Donnerstag, wenige Stunden vor der Etappe der Männer, plus das Verfolgungsrennen in Marseille, auch das am gleichen Tag wie das Einzelzeitfahren der Männer.

Die neue Formel stieß auf Anklang im Feld. „Total cool, dass wir hier ein Rennen haben und eine Bergetappe auch und einen der größten und bekanntesten Pässe überhaupt fahren dürfen. Das ist echt schön und eine Ehre, hier zu sein“, sagte Radprofi Claudia Lichtenberg zur taz. Und Elena Cecchini, italienische Meisterin und aktuell beim deutschen Team Canyon SRAM unter Vertrag, lobte: „Das ist wirklich etwas anderes. Wir hatten so etwas noch nie zuvor. Wir müssen aber einfach neue Dinge probieren. Der Sport muss wachsen. Wir brauchen mehr Zuschauer, wir müssen Aufmerksamkeit erregen. Man erreicht das, indem man Dinge ändert. Man muss die Leute interessieren und das, was man tut, hinterfragen.“

Eine gute Sache bei La Course ist auch das Preisgeld, laut Cecchini beträgt es 6.000 Euro. Zum Vergleich: Ein Etappensieger der Männer bei der Tour bekommt 11.000 Euro, der Gesamtsieger eine halbe Million. Beim Giro Rosa, offizielle Giro d’Italia femminile, dem wichtigsten Etappenrennen der Frauen, erhielt die Siegerin in diesem Jahr karge 1.130 Euro.

„Wir müssen einfach neue Dinge probieren. Der Sport muss wachsen. Wir brauchen mehr Zuschauer, wir müssen Aufmerksamkeit erregen. Man muss die Leute interessieren und das, was man tut, hinterfragen“

Elena Cecchini, italienische Meisterin

Immerhin tut sich etwas im Frauenradsport. Bei Tour-de-France-Veranstalter ASO, der auch Klassikerrennen wie Lüttich–Bastogne–Lüttich am gleichen Tag für Frauen und Männer veranstaltet; beim Weltverband UCI, der die World Tour mit 20 Rennen, darunter weitere Klassiker wie die Flandern-Rundfahrt, aber auch neue Events wie die Kalifornien-Rundfahrt eingeführt hat; außerdem bauen einige Rennställe, das deutsche Team Sunweb etwa, parallel Teams für Männer und Frauen auf. „Die Hälfte der Rad fahrenden Bevölkerung sind Frauen. Dieses Zahlenverhältnis findet sich nicht im Profibereich wieder. Das muss sich ändern“, sagt Sunweb-Chef Iwan Spekenbrink. Er weist auch darauf hin, dass die Frauen im Radsport nicht einfach nur die Männer nachahmen sollten. „Wenn man kopiert, bleibt man immer hinter dem Vorbild zurück. Frauenradsport sollte eine eigene Identität entwickeln.“

La Course im neuen Modus war so ein Test für die Herausbildung eines eigenen Charakters. Der Test führte aber auch zum schonungslosen Aufzeigen der Defizite. Bei der Etappe zum Izoard erreichten 67 Fahrerinnen von 119 gestarteten nicht das Zeitlimit. Wie will man da eine Rundfahrt mit ikonischen Bergankünften gestalten, fragt sich, fast schon verzweifelt, Rennorganisator Gouvenou. „Man bräuchte viel mehr Frauen mit dem gleichen sportlichen Niveau. Momentan sieht man 30 bis 40 Frauen auf einem guten Niveau. Man braucht aber 150, 200 Frauen auf gutem Niveau, um ein größeres Rennen zu haben.“

Annemiek van Vleuten, die überlegene Siegerin des Doppel­events, sieht die Diskrepanzen im Frauenpeloton vor allem dadurch verursacht, dass eben nur die von Gouvenou genannten 30 bis 40 Frauen echte Profis seien und vom Sport leben könnten. Der Rest arbeitet halbtags oder studiert und kann eben nicht so trainieren, um an einem Berg wie dem Izoard nicht abgehängt zu werden. Identität ohne Profimindestlohn aufzubauen, ist gar keine so einfache Sache.