Kunst: Radek Krolczyk über Sabine Moritz „Neuland“ im Kunstverein Bremerhaven
: Böse Phantasien im Plattenbau

Ostdeutsche Kindheitserinnerungen in Öl Foto: Sabine Moritz/Kunstverein Bremerhaven

Neuland“ lautet der Titel der aktuellen Ausstellung beim Kunstverein Bremerhaven. Gezeigt werden Arbeiten der bekannten Grafikerin Sabine Moritz. In mehreren Werkgruppen sind Leben und Sterben in der DDR Thema: in den neuen Bundesländern also, „unserem“ Neuland, das nun auch schon seit fast dreißig Jahren zur Bundesrepublik gehört.

Für Sabine Moritz jedenfalls ist der Osten der Republik kein Neuland. 1969 wurde sie in Quedlinburg geboren, einer bereits im Mittelalter angelegten Stadt in Sachsen-Anhalt. Aufgewachsen ist sie in der Jenaer Plattenbausiedlung Neulobeda, also in Thüringen. Um eben diese Siedlung kreist eine ihrer großen Werkreihen: „Lobeda“. Bereits seit 1992 arbeitet sie fortlaufend daran. Eine Auswahl ist in Bremerhaven zu sehen. Bei „Lobeda“ handelt es sich um zunächst technisch erscheinende, im Grunde aber ungenaue Handzeichnungen. Mit Bunt- und Bleistift zeichnet sie auf Papier die Umgebung, in der sie ihre Kindheit und Jugend verbrachte.

Man sieht Fragmente von Plattenbauten, Stadtmöbel wie Bänke und Bushaltestellen und ganze Straßenzüge in den zweireihig hängenden Blättern. Der technische Charakter der Zeichnungen geht auf die rational angelegte Wohnstadt zurück. Was man sieht, beginnt von der Anlage her klar, Struktur und Linien sind deutlich, undeutlich wird die Szenerie schließlich in ihrer Binnenzeichnung. Die Erinnerung einer heute erwachsenen Frau an eine Gegend, in der sie vor etwa vierzig Jahren aufwuchs. Durch diese Kollision innerhalb der Zeichnungen erscheinen sie naiv und wirken beinahe so, als wären es nicht bloß Kindheitserinnerungen, sondern als habe ein Kind sie auch angefertigt.

Das Sujet ist bemerkenswert. Denn wann schon wird so etwas Mystifiziertes wie Kindheit retrospektiv in einer Plattenbausiedlung verortet? Und wo schon finden wir ein solch hartnäckiges Bekenntnis zu ihr, als Kindheitsort? Das ist das Zeitspezifische dieser Zeichnungen: Denn so manche Kindheit in den 70er- und 80er-Jahren spielte sich zwischen Plattenbauten ab, im Osten wie im Westen.

Sabine Moritz selbst hat die DDR bereits 1985 verlassen, also einige Jahre vor der Wende. Seit 1991 studierte sie an der Kunstakademie Düsseldorf, zunächst bei Markus Lüpertz, später dann bei Gerhard Richter, mit dem sie seit 1995 verheiratet ist. Moritz taucht in mehreren seiner bekannteren Bilder auf. So etwa als „Lesende“ oder „Kleine Badende“ in den gleichnamigen Werken von 1994. Später malte er sie oft madonnenhaft als stillende Mutter. Sie haben drei gemeinsame Kinder.

Eine wichtige Gemeinsamkeit im Werk der beiden ist jedoch eine bestimmte Art der Verarbeitung gewaltsamer Zeitgeschichte. In Bremerhaven sind Ölbilder aus den Serien „Sterbend“ und „Charlottenstraße“ von 2013 und 2015 zu sehen. In gewissem Sinne erinnern sie an Richters RAF-Zyklus, einer in Öl gemalten Serie, die die Toten von Stammheim zeigt. In ihrer gleichzeitigen Offenheit und Drastik entsprechen sie den genannten Reihen seiner Frau. Und auch um Dissidententum und seine blutige Konsequenz geht es in den beiden genannten Serien der Malerin. Ihre Themen sind die sogenannten Mauertoten.

Ihre Szenenfolgen hat Moritz in hellen Farben gemalt. Die Grenzlandschaft scheint ganz verschneit zu sein, ein Ort zwischen Märchen und Unheil. Das verwaschene Weiß prägt die Umgebung, alle Bauwerke und selbst die Menschen. Den Bildvordergrund zerschneidet Stacheldraht, dahinter schieben sich Figuren in grüner Polizeiuniform durchs Bild. Sie agieren, wirken aufgeregt und suchend. Worauf ihre heftige Aufmerksamkeit gerichtet ist, bleibt nur erahnbar.

Eine heftige Suchbewegung geht auch von der Serie „Sea King“ aus, an der Moritz seit 2015 arbeitet. Es handelt sich dabei um eine Reihe recht unterschiedlicher Ansichten eines Helikopters. In der Bremerhavener Ausstellung bedecken diese Blätter eine große Wand. Sie erinnern so an einen gefährlichen oder bloß lästigen Schwarm Insekten. Die Hängung wirkt atmosphärisch in den Raum hinein. Tatsächlich fühlten sich bei der Eröffnung der Ausstellung mehrere Gäste allein beim Anblick der Helikopterwand an den Lärm der Rotoren erinnert.

Ihre Helikopter hat Moritz in Öl auf Lithografien gemalt, die sie zuvor zu diesem Zweck angefertigt hatte. In gewissem Sinne trifft so auch hier ein verundeutlichender Farbauftrag auf ein technisches Motiv und eine technische Struktur. Durch die Undeutlichkeit erst erwacht die böse Phantasie.

Der Autor ist Betreiber der Galerie K.

Die Ausstellung ist bis zum 27. August zu sehen.