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Der witzigste Stockhausen jemals

Diskursprojekt „Ein Traum von Weltmusik“ im HAU entpuppte sich als ein Fest der Überraschungen und dank der zwanzig Mitglieder der „Heimatlieder aus Deutschland“ auch als ein dreifaches Halleluja auf den Amateur

von Cord Riechelmann

„Ein Traum von Weltmusik“ , wie das am Freitag- und Samstagabend von Mark Terkessidis und Jochen Kühling im HAU aufgeführte Vortags-, Gesprächs- und Musikprojekt hieß, war zuerst ein Fest der Überraschungen. Von Karlheinz Stockhausen, interpretiert mit Akkordeon, akustischer und elektrischer Gitarre und Cello, über einen zurückhaltend schön imitierten Ruf eines Amazonasfroschs bis zu einem alten, weisen Mann, der zum ersten Mal in Deutschland auftrat und so viel Geschichte in sich trug, dass er bestimmt alles ist, aber mit Sicherheit kein ausgebildeter Historiker.

Der weise Mann war der 1938 geborene Musiker und Komponist François Tusques, der für die Musik in Frankreich das ist, was der Schriftsteller Pierre Guyotat für die Literatur ist. Beide waren als junge Menschen zur Armee eingezogen und in den Algerienkrieg geschickt worden, was beide politisch und kunstformalsprachlich radikalisierte. Tusques wird in der Folge zum französischen „Free Jazz“-Pionier.

Die Ereignisse vom Mai 1968 in Paris lassen ihn allerdings zu der Erkenntnis kommen, dass dem Free Jazz etwas fehlt, das weiter reicht als das offene Experiment im kleinen Keller. Im Gespräch mit Mark Terkessides sagte Tusques, dass es vor allem arabische und schwarzafrikanische Musiker und Musiken waren, die ihm Augen und Ohren für eine größere Welt öffneten. Terkessides hatte dazu ein Stück von Tusques aus der Zeit vor dem Mai 68 und eines aus der Zeit danach angespielt, und der Unterschied war so frappierend, dass man kurz ohne eine weitere Erklärung verstand, warum er sein Nach-68-Projekt „Intercommunal Free Dance Music Orchestra“ genannt hatte.

Mit der Sängerin Isabelle Juampera Vivancos improvisierte François Tusque am Klavier dann einen Text von Arthur Rimbaud auf eine Weise, dass der Auftritt wie die neuen Prolegomena zu Rimbauds berühmter Forderung, nach der die Liebe neu erfunden werden müsse, wirkten. Man war nur dankbar, dabei gewesen zu sein, und in seinem Theatersessel so weich geworden, dass man den Kuratoren des Abends für ihre zarte Empirie die ganze Welt in den Saal gewünscht hätte.

Vor Tusque hatte nämlich an diesem Samstag bereits die Künstlerin und ehemalige Spex-Mitherausgeberin Jutta Koether in ihrer Vortragsperformance „Pique-Nique (#4)“ vom Sammeln der kleinen Dinge erzählt und in Louis Armstrong den Vater und Gründer all dieser weltzerstreuten Sound- und Bildersammlerinnen gefunden. Eine These, die einem illustriert mit einem YouTube-Video von Armstrong so einleuchtete, wie Mark Terkessides’ Eingangsfeststellung, dass mit der Minimal Music eine Revolution begonnen worden sei, die noch lange nicht an ihr Ende gekommen sei. Terkessides war in seinem in die Abende einleitenden Vortrag das Kunststück gelungen, tatsächlich Minimal Music, den Wortursprung „Weltmusik“ und das Projekt „Heimatlieder aus Deutschland“ so zusammenzuführen, dass man fast noch mal zum Nachkindheitsfan der Olympischen Spiele von 1972 in München geworden wäre.

Ungehörte globale Sounds

Der Begriff „Weltmusik“ findet sich im Katalog zur Kunstausstellung zur Olympiade in München und meint nichts anderes, als die Ohren für die ungehörten Sounds der weiten Welt zu öffnen. In Verbindung mit der Minimal Music, die sich als Aufstand gegen die in mathematisierten, unhörbaren Formalisierungen erstarrte serielle Musik und die einschüchternden Erziehungsmethoden der Musikkonservatorien verstand, ergab sich daraus im HAU eine ungeahnte aktuelle Brisanz. In einer Zeit, in der jeder Knalldepp das Wort „unprofessionell“ als Vorwurf in die Welt schleudern und jeder Pfeifenhans den Profi geben kann, war der Traum von der Weltmusik auf einmal so subversiv wie François Tusques ganzes Leben. Die Vorträge bereiteten jeweils auf den Akt des Abends vor, Interpretationen von Klassikern der Minimal Music wie Karlheinz Stockhausen, Hans Otte, Grete von Zieritz oder Simeon ten Holts „Canto Ostinato“.

Gespielt wurden sie von Mitgliedern des Kunstprojekts „Heimatlieder aus Deutschland“, die sich vorgenommen haben, die musikalischen Heimaten des Einwanderungslandes Deutschland auf eine der Vielfalt gerecht werdende Ebene zu heben. Zwanzig dieser Musiker, die in der Regel anderen Berufen wie Altenpfleger, Restaurantbesitzer oder Informatiker nachgehen und keine klassische Musikausbildung haben, hatten sich auf das Experiment mit den von ihren folkloristischen Ursprüngen mehr oder weniger weit entfernten Kompositionen eingelassen. Und wie sie dann mit Gitarren, Rahmentrommeln und Akkordeon den in jeder Beziehung überautoritären Stockhausen in den entregionalisierten Weltsound überführten, war wahrscheinlich der witzigste Stockhausen der je Sound geworden war, und das muss man bei korrekter Übersetzung der sturen Notation erst mal hinkriegen. So war der Abend nicht zuletzt ein dreifaches Halleluja auf den Amateur als Angriff auf die Pest unserer Zeit: den sogenannten Profi.

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