Flucht in die Vergangenheit

DDR Signe Astrups Dokumentarfilm „Die vergessene Armee“ offenbart die gesellschaftliche Entfremdung ehemaliger NVA-Offiziere

Die Übungen der Exoffiziere ähneln einer Mischung aus Wehrsportgruppe und Rentnerausflug mit Bratwurst

Mai 2011: Sieben Männer, sechs davon in Uniformen der DDR-Streitkräfte, marschieren über das Gelände des Sowjetischen Ehrenmals in Berlin-Treptow. Einer von ihnen hält ein Blumengebinde mit schwarz-rot-goldener Plastikschlaufe unterm Arm, über ihnen hängt in der Windstille die Fahne der DDR. Das bizarre Schauspiel erregt die Aufmerksamkeit von einigen Passanten. Fotografen nutzen die Kranzniederlegung für ein paar Aufnahmen, vor allem aber feiert die Gruppe unter sich.

Dieser Zwiespalt, die Öffentlichkeit zu suchen und zugleich eine abgeschlossene Gruppe zu sein, zieht sich durch den gesamten Dokumentarfilm „Die vergessene Armee“ über ehemalige Offiziere der Nationalen Volksarmee der DDR. Fünf Jahre lang versuchte Signe Astrup, dänische Absolventin der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, zu verstehen, was die ehemaligen Soldaten umtreibt.

„Die vergessene Armee“ zeichnet aus Interviews ein Kollektivporträt einiger ehemaliger Offiziere, die sich in Vereinen organisieren und Traditionen und Rituale der Nationalen Volksarmee (NVA) weiterführen. Sie treffen sich, um in den Uniformen der NVA Rituale nachzustellen, Einsätze zu simulieren, ihre Gemeinschaft und Gräber verstorbener Freunde und Bekannter zu pflegen. Die Übungen ähneln einer Mischung aus Wehrsportgruppe und Rentnerausflug mit Bratwurst.

Jede Drolligkeit endet jedoch bei der fortwährenden ideologischen Selbstbestätigung, die sich in den Gruppenszenen zeigt, in denen eine vollständig realitätsabgeschirmte Dampfplauderei einiger Vielsprecher vorherrscht. Geschickt ergänzt Astrup die Interviewpassagen mit Ausschnitten aus Archivmaterialien wie Schulungsfilme der NVA und des Ministeriums für Staatssicherheit. Bei einigen der Interviewten scheinen sich die Lehrinhalte bis heute eingeprägt zu haben.

Durch die lange Produktionszeit ist es nicht bei einer oberflächlichen Annäherung geblieben. In Einzelgesprächen äußern sich einige der Porträtierten deutlich differenzierter als in den Gruppengesprächen und blicken auch auf schwierige Momente ihrer Zeit in der Nationalen Volksarmee zurück. Besonders deutlich wird dies in zwei Passagen zu Einsätzen an der deutsch-deutschen Grenze, bei denen Schüsse fielen, was noch heute sichtlich an den ehemaligen Soldaten nagt.

Im Unterschied zwischen den Gruppenszenen und den Einzelinterviews wird die Funktion der Traditionsvereine am besten erkennbar: als Rückzugsraum vor einer als feindlich erlebten Wirklichkeit, in der kein Platz für die eigenen Erinnerungen ist. Es ist kein Zufall, dass diejenigen unter den Befragten am ausgeglichensten wirken, die mittlerweile im Rentenalter angekommen sind. Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, das ziellose Kreisen um die eigene Biografie fördern unter den ehemaligen Soldaten erkennbar die Flucht in eine verklärte Vergangenheit.

Signe Astrup hat mit „Die vergessene Armee“ einen klugen, beharrlichen Film über einige Täter der DDR-Repression gedreht, der zu verstehen versucht, warum auch über 25 Jahre nach dem Ende der DDR kaum jemand von ihnen seinen Platz in der Gegenwart gefunden hat. Gerade weil „Die vergessene Armee“ auch zeigt, welch abscheuliche Mischung aus Verschwörungstheorien und Paranoia in Armeeresten ohne Außenweltkontakt gedeiht, wird klar: Es braucht wieder eine breitere öffentliche Debatte und deutlich mehr Wissen zum Umgang mit der Geschichte der DDR. Denn viele Fragen sind im Rückblick erstaunlich schnell aus der öffentlichen Diskussion verschwunden. Fabian Tietke

„Die vergessene Armee“. Regie: Signe Astrup. Deutschland 2016, 88 Min.