Aktuelle Anmerkungen aus älterer Zeit

BücherDer Verlag Das Kulturelle Gedächtnis ist eine neue Neuköllner Adresse für bibliophile Besonderheiten. Im Angebot: Texte aus der Vergangenheit mit neuer Relevanz in der Gegenwart

Wollen verlegen, was sie für relevant halten: Peter Graf (vorn) und Thomas Böhm Foto: Julia Baier

von Susanne Messmer

Die Zeichen stehen miserabel. Immer mehr Menschen greifen nach elektronischen Endgeräten, wenn sie etwas lesen wollen – und dann ist es auch noch unwahrscheinlich, dass sie sich dabei auf etwas Langatmiges wie einen Roman einlassen, in ganz andere Denk- und Sprachwelten eintauchen, für die man sich erst einmal ziemlich weit aus der Hektik des Alltags herausziehen muss. Außerdem: das Sterben der gut sortieren Buchläden, die Handelskonzentration bei den Verlagen. Die Zeiten sind nicht einfach fürs Büchermachen.

Muss man da nicht vollkommen verrückt sein, um ausgerechnet jetzt einen kleinen, feinen Verlag mit ziemlich eigenwilligem Profil zu gründen?

„Diese Frage bekommt man immer gestellt, wenn man einen solchen Schritt geht“, erklären Peter Graf und Thomas Böhm an einem sonnigen Vormittag in den bescheidenen Räumen des Verlags Das kulturelle Gedächtnis, der im Frühjahr in Neukölln an den Start ging.

Vier bibliophile Bände sind seither im Verlag Das kulturelle Gedächtnis erschienen, durch die Bank alte Texte, vergessene Texte. Die Verleger – das sind neben Böhm und Graf noch Vertriebsexperte Carsten Pfeiffer und Lyriker und Übersetzer Tobias Roth –, diese Verleger betonen: Es sind nichtsdestotrotz notwendige Texte.

Denn die Texte, wie sie hier verlegt werden, verhandeln aktuelle Themen, die viele derzeit eigentlich ziemlich umtreiben. In den Worten Böhms: „Wir suchen nach Texten aus der Vergangenheit, die jetzt in der Gegenwart eine neue Relevanz bekommen.“ Flucht und Di­plo­ma­tie, religiöser Fanatismus und die sogenannte Lügenpresse: Schon die Tatsache, dass Menschen bereits seit 200, 300 Jahren über diese Themen nachdenken, ist erhellend.

Ein Verlag für Randgruppen also, für eine Handvoll gebildeter Extravaganter, die noch wissen, wie man sich Zeit und Muße nimmt?

Man könnte sagen: Das ist es. Man könnte aber auch sagen: Bei den Leuten, die hinter diesem Verlag stecken, ist es noch ein bisschen mehr.

Denn die Verleger hinter Das kulturelle Gedächtnis sind keine Unbekannten. Da ist zum einen Thomas Böhm. Er war Chef des Kölner Literaturhauses, Programmleiter für das Gastland Island auf der Frankfurter Buchmesse und beim Internationalen Literaturfestival. Noch immer verwandelt er als Moderator gefühlt jede Woche eine Lesung in Berlin mit seinen ausladenden Gesten und seinem Wortwitz in ein Ereignis.

Und da ist zum anderen Peter Graf mit seiner Vorgeschichte. Bis vor Kurzem leitete er unter dem Dach des Aufbau Verlags einen der aufregendsten Verlage, die in den letzten Jahren gegründet wurden, den Metrolit Verlag für ein junges urbanes Publikum. Nach nur drei Jahren Anlaufzeit aber wurde Metrolit 2015 schon wieder der Hahn abgedreht.

Vielleicht ist es vor allem die Enttäuschung, Herzblut zu investieren, aber von anderen abhängig zu sein und jederzeit abgeschrieben werden zu können, welche die Idee zum Verlag Das kulturelle Gedächtnis hervorgebracht hat. Denn der sperrige Name erzählt wenig vom spannenden Kern: So eckig und so widerborstig und doch so schwungvoll und kompromisslos kam schon lang kein neuer Verlag mehr daher.

Anders als andere Verleger haben Thomas Böhm, Peter Graf und ihre Mitstreiter nicht einmal ansatzweise vor, mit ihrem Verlag Geld zu verdienen. „Jeder hat woanders seinen Broterwerb“, sagt Böhm. „Wir wollen nicht wachsen“, sagt Graf und rechnet vor: Acht Bücher, wie sie sie machen, kosten etwa 60.000 Euro. Dazu passt, dass der Verlag für Texte dieses Alters kein Geld fürs Copyright ausgeben muss. Wenn man dann für ein Buch im Laden 20 Euro zahlt und mehr oder weniger 10 Euro beim Verlag hängen bleiben, muss man 6.000 Bücher verkaufen, also 750 Stück pro Titel, wenn sich das Ganze tragen soll. „Das ist nicht nichts“, sagt Peter Graf, „aber es ist auch nicht wahnsinnig viel.“

Der Druck, der von manchen als Motor empfunden werden mag: In diesem Verlag haben sie sich davon frei gemacht. Stattdessen herrscht „heitere Gelassenheit“, wie die beiden sagen – ein weiter Raum für Experimente, jenseits der großen Sorge um Verkaufszahlen, Marke­ting­strategien und anderer Ver­wertungsmechanismen.

In den Worten Grafs: „Wir können etwas veröffentlichen, einfach weil wir es für relevant halten.“

Selbstausbeutung? „Nein. Eher Luxus“, lachen beide.

Das vielleicht berührendste Buch, das auf diese Art bislang beim Verlag Das kulturelle Gedächtnis erschien, ist ein Buch des Autors Gottlieb Mittelberger. Es heißt „Reise in ein neues Leben“ und wurde von Wolfgang Hörner vom Galiani Verlag in einem Antiquariat ausgegraben.

Die Geschichte von Mittelberger beschreibt seine Reise nach Amerika Ende des 18. Jahrhunderts, wo er vier Jahre lang als Organist und Schulmeister arbeitete, bevor er in die schwäbische Heimat zurückkehrte. Mittelberger beschreibt all die anderen Wirtschaftsflüchtlinge auf dem Weg ins „Neue Land“, ihren „erbärmlichen und kummervollen Zustand“ ebenso wie das „unbarmherzige Verfahren der holländischen Menschen-Händler“, die sie verschifften, und die kleinen Kinder, die die langen Schiffsreisen meist nicht überlebten und deren Leichen zum Kummer der Eltern einfach über Bord geworfen wurden.

Das sicher interessanteste Buch, das im Herbst beim Verlag Das kulturelle Gedächtnis erscheinen wird, ist Walt Whitmans Roman „Das abenteuerliche Leben des Jack Engle“. Der Roman erschien 1851 anonym in sechs Folgen in einer Tageszeitung, erst 2016 entdeckte ein Student aus Texas, dass er von Walt Whitman stammt. Whitman, dafür bekannt, wie emphatisch er an die freien Entfaltungsmöglichkeiten jedes Einzelnen in seinem Land glaubte, erzählt die Geschichte eines Waisen, der in den 1850er Jahren im multikulturellen New York aufwächst. Am Ende verbünden sich Iren und Spanier, Juden, Quäker und Katholiken, um dem entrechteten Waisen zu helfen.

Man ahnt es schon: Der Roman wird von vielen wie eine Flaschenpost ins 21. Jahrhundert gelesen werden.

Whitmans Roman wird wenig später auch in einer anderen Übersetzung in einem viel größeren Verlag erscheinen, bei dtv. Gut möglich trotzdem, dass er die Rechnung von Peter Graf gehörig auf den Kopf stellen wird. Gut möglich, dass dieses Buch das Erste sein wird, das sich nicht einfach tragen wird. Das wäre dann etwas, worauf andere Kleinverlage Jahrzehnte warten mussten.

Und was sagt Peter Graf dazu?

„Wir haben die Segel gesetzt, und jetzt mal sehen.“

daskulturellegedaechtnis.de