Berliner Szenen: Heartache und Tennessee
Das Selfie
Die Sonne knallt am Maybachufer. Es ist Markt, es riecht nach Mais, Fisch und Oliven. Irgendwelche Straßenmusiker spielen hier immer. Heute singt ein langhaariger, dünner Mann mit Gitarre über Heartache, Tears und Tennessee. Ich höre nicht richtig zu. Am Geländer Richtung Wasser haben sich drei Mädchen aufgebaut. Sie versuchen ein Selfie zu machen. Die Blonde ist ziemlich groß und hält mit ihren langen Armen das Smartphone so weit wie möglich von ihrem Körper weg. Die kleinere der beiden Brünetten steht bereits auf Zehenspitzen. „Wart mal – meine Haare sehen schlimm aus“, sagt die zweite, ebenfalls kleine Brünette. Sie wirbelt sich dynamisch durch die Locken. „Lass mal tauschen, auf der Seite seh’ ich kacke aus.“
Umständlich werden Plätze getauscht. Die Lockige versucht jetzt das Selfie zu schießen, für ihre blonde Freundin heißt das in die Hocke zu gehen. Sie hält sich am Geländer fest, ihre Knie zittern. Die drei grinsen angestrengt in die Kamera. Ich starre sie unverhohlen an. Merke, dass die Menschen neben mir das auch tun. Niemand bietet an, ein Foto von ihnen zu machen. Die Mädchen drehen sich dann um, die Sonne blendet wohl. Jetzt sind wir, die starrende Menschenmenge, der Hintergrund und nicht mehr das idyllisch glitzernde Wasser. Das scheint die drei nicht zu stören, sie haben ein anderes Problem.
„Wenn du das Bild von da unten machst, ist mein Kopf voll abgeschnitten.“ Die Blonde klingt genervt. Auch der Sänger ist inzwischen zu Jaulen übergegangen. Er wimmert – lange und sehr hoch. Ich kann ihn verstehen, wir sind ein schlechtes Publikum. Die Mädchen ziehen ab. „Das postest du jetzt aber nicht, ne?“, sagt die Blonde giftig. Ich sehe ihnen nach und frage mich, ob wir durch unsere unterlassene Hilfeleistung einen harmonischen Tag in der Sonne ruiniert haben – oder nur einen Instagram-Post. Linda Gerner
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