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Theater statt Krise

Theater Zum „Odyssee Europa“-Festival zeigt sich Bremerhaven als Tor zur Welt und erforscht performativ das neue Europa

von Jens Fischer

Nix für zartbesaitete Seelen. Seit sich die zerstörerische Kraft des Nationalismus rechtspopulistisch austobt, wird die Auseinandersetzung um Europa knallhart geführt. Also ab damit in den Ring, wo sich nur die stärksten Argumente durchsetzen. Genau dort verhandelt die portugiesische Choreografin Cláudia Diaz die Konflikte. Der spanische Schriftsteller Pablo Fidalgo Lareo wirft Fragen und Stichwörter wie linke Haken in die Faustkampfarena. Was die Wirtschaftskrise in Portugal mit Europa, was die Eurokrise mit Portugal, was all das mit Arbeitslosigkeit und den prekären Lebensverhältnissen von Künstlern zu tun habe?

Wie könnte Lamentieren in politischen Widerstand, wie ideologische Feindschaft in res­pektierte Gegnerschaft verwandelt werden? All das wird mit Worten und Körpern ausformuliert und andiskutiert. 12 Runden lang. Wer am Ende k. o. ist, beantwortet die Performance „Monday: Watch out for the right“, die an den Münchner Kammerspielen herauskam und nun als einer der Höhepunkte beim Bremerhavener „Odyssee“-Festival zu erleben ist. Das wird dank der Fluktuation im Dramaturgen-Team des veranstaltenden Stadttheaters jährlich neu erfunden.

Vom 7. bis 11. Juni dreht sich dieses Jahr ein Multikulturstadtfest um europäische Befindlichkeiten und Gegenwartsanalysen in den Ländern, deren Bürger in Bremerhaven die zahlenmäßig größten ausländischen Bevölkerungsgruppen bilden. So stehen ein Türkei-, Bulgarien-, Portugal-, Polen- und auch ein Europa-Tag auf dem Spielplan. Bremerhavener aus den jeweiligen Communitys mit landestypischer Koch-, Barkeeper-, Kunstkompetenz servieren Speisen und Getränke auf dem Theodor-Heuss-Platz sowie Musik, Literatur und Gespräche im Festivalzelt. Abends gibt es dann Performatives im Theater.

„Wir wollten ganz bewusst kein elitäres Festival mit großen, hochkarätigen Gastspielen machen“, betont Dramaturg Peter Hilton Fliegel. Aber ein eher volkstümliches Fest muss mit kleinformatigeren Gastspielen nicht weniger hochkarätig besetzt sein. Die Teilnahme an der „Odyssee“ war europaweit ausgeschrieben. Aus 50 Bewerbungen kuratierte eine vierköpfige Jury das Festival. Ausgewählt wurden möglichst unterschiedliche Ästhetiken. Inhaltlich geht es um Identität, Heimat und das Wechselspiel von persönlich erinnerter und kollektiv geformter Historie.

Widerpart zur schlagkräftigen Präsentation Portugals ist das Dating mit Polen: eine stille, geradezu feingliedrig intime Lebensspurensuche deutscher Einwohner im heutigen Slupsk, Pommern, bietet der Dokutheaterabend „Odzyskane/Wiedergewonnenes“ von Ludomir Franczak. Aus Bulgarien kommt Alexander Manuiloffs „Staat“. Ein Stück ohne Schauspieler, ohne Regisseur, ohne pures Zuschauvergnügen. Aber mit Texten in Briefumschlägen und einer Anleitung zur Partizipation. „Es ist das Publikum, das die Briefe laut vorlesen und so eine eigene kleine Gesellschaft erschaffen soll, seine eigenen Regeln, wie mit der Situation verfahren wird, und seine eigene unverwechselbare Vorführung“, schrieb der Autor als Gebrauchsanweisung.

Als Tor zu Welt hat Bremerhaven schon immer viele Fremde beherbergt

Peu à peu entwickelt sich aus den vorgelesenen Texten ein fiktiver Abschiedsbrief des realen Plamen Goranov, der sich 2013 aus Protest gegen die antisoziale Politik in Bulgarien öffentlich verbrannt hat. Daraus sollen sich nun Fragen ergeben, in was für einem Staat wir eigentlich wie leben wollen.

Warum Bremerhaven als Ausgangsort der „Odyssee Europa“ taugt? „Das ist ja eine Irrfahrt und Suchbewegung, das hat was Prozesshaftes wie unser Festival“, erläutert Dramaturgin Anna Gerhards. „Zudem leben wir hier in einer Musterstadt Europas“, ergänzt Fliegel. 17 Prozent der Bevölkerung haben laut Statistik einen ausländischen Pass. „Und über die Hälfte besitzt einen Migrationshintergrund, aber es herrscht ein vergleichbar friedliches Miteinander, zwei AfD-Abgeordnete in der Stadtverordnetenversammlung sind zu verschmerzen, Pegida-Nachahmer gescheitert“, sagt Fliegel. Als Tor zur Welt, dem Auswandererhafen, habe Bremerhaven schon immer viele Fremde beherbergt. Eine Tradition, die vielleicht toleranter für eine offene Gesellschaft mache. So ist auch die Unterbringung der knapp 30 anreisenden Künstler kein Problem. Sie wohnen fast alle bei Gastfamilien – wie früher beim völkerverständigenden Schüleraustausch.

Finanziert wird die Veranstaltung durch den Theaterpreis des Bundes. Die Höchstsumme von 80.000 Euro bekam das Stadttheater 2015 zugesprochen, weil es sich „durch spartenübergreifende Produktionen und Rechercheprojekte sowohl im Theater selbst wie auch an exponierten Außenspielorten … der spezifischen Situation einer hochverschuldeten Hafenstadt im Spannungsfeld von Arbeitslosigkeit, Werftenkrise und wirtschaftlichem Wandel“ gestellt habe, hieß es in der Jurybegründung. Das nicht zweckgebundene Preisgeld durften drei Sparten in dieser Spielzeit zu gleichen Teilen nutzen. Ballettchef Sergei Vanaev wurde ermöglicht, seine choreografierten Goldberg-Variationen mit einer Live-Pianistin aufzuführen, das Musiktheater brachte mit Šimon Vosečeks „Biedermann und die Brandstifter“ eine moderne Oper in üppiger Ausstattung ans Publikum. Nun knüpft das Schauspiel mit der „Odyssee Europa“ explizit an die Jurybegründung an: Es öffnet Räume experimenteller Gestaltung gesellschaftlicher Themen und bewegt sich gleichzeitig in die Stadt hinein und auf ihre Bevölkerung zu.

Programm und Termine: www.stadttheaterbremerhaven.de

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