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Archiv-Artikel

Der Archäologe

LITERATUR Eginald Schlattner ist der bekannteste deutschsprachige Autor Siebenbürgens

Was macht ein Autor, wenn er abgeschlossen hat mit dem Schreiben? Er spielt den Experten seines eigenen Lebens und berät Forscher, die sich mit seinem Werk beschäftigen. So ist es im Fall Eginald Schlattners, dem bekanntesten deutschsprachigen Autor Siebenbürgens. Die multikulturell geprägte Region im Herzen des heutigen Rumäniens wurde bis zum Ende des Ceausescu-Regimes von den Siebenbürger Sachsen bevölkert. Die meisten verließen die Region, Schlattner ist einer der wenigen, die blieben.

Sein Leben ist ein dramatisches Gesamtkunstwerk: 1933 in Arad geboren und in einer großbürgerlichen Familie aufgewachsen, bevor Krieg und Kommunismus ihn aus dem Milieu hinauswarfen. Er studierte Theologie als Ungläubiger, er wurde als Unschuldiger inhaftiert von der Securitate, dem rumänischen stalinistischen Geheimdienst, er verriet Kollegen als Gebrochener, er sühnte seinen Verrat als „von Gott Gerufener“, er wurde ein Pfarrer, den seine Schafe verließen, als die Siebenbürger Sachsen 1990 kollektiv nach Deutschland auswanderten. Schließlich legte er schreibend Zeugnis ab, „aus Verzweiflung“, und gelangte zu Ruhm als Schriftsteller mit seiner autobiografischen Romantrilogie, die viele als Ende der Geschichte der Siebenbürger Sachsen lesen. An der Versöhnung mit den Verratenen aber scheiterte er. Er sei radikal mit sich ins Gericht gegangen, sagt Schlattner. Er habe sie in seinem Roman ein zweites Mal verraten, sagen die Verratenen.

Jetzt, mit 79, schreibt Schlattner nicht mehr. Seinen Nachlass hat er schon zu Lebzeiten ins Archiv nach Hermannstadt gegeben. Allein residiert er auf seinem Pfarrhof in Rothberg/Rosia, empfängt Studenten und Doktoranden und berät sie bei dem, was sie vorfinden. „Zehn Magisterarbeiten wurden über meine drei Bücher geschrieben, mehrere Doktorarbeiten stehen ins Haus“, rühmt sich Schlattner.

Michaela Nowotnick erforscht Schlattners Vorlass und ist Herausgeberin des gerade erschienenen Buchs „Mein Nachbar, der König“ mit sechs hierzulande unveröffentlichten Erzählungen, die sie auf Schlattners Dachboden gefunden hat. Von Mäusen angefressen hätten sie dort gelegen – so lautet sein Lieblingskommentar zu den Stücken, den er mit seiner Lieblingsgeste, dem predigenden Zeigefinger, zu Protokoll gibt. Schlattner, so scheint es, fühlt sich als Archäologe seines eigenen Werks, der die Ausgrabungen beobachtet.

Zum Vorschein kamen frühe literarische Versuche der 50er und 60er Jahre, die vor und nach seiner Securitate-Haft entstanden. Es sind Texte, in denen Schlattners antiquierte und doch präzise Sprache sich deutlich abzeichnet und sich vermischt mit Motiven des sozialistischen Realismus. Da ist zum Beispiel der einsame ziellose Mensch, der Halt sucht bei „den vielen“. Auch Satire kommt vor: in „Gefährte Rebhuhn“ parodiert Schlattner das chauvinistische Proletentum seines damaligen Chefs in einer Wasserstation. Witz findet man auch in der titelgebenden Erzählung „Mein Nachbar, der König“. Wie ein realistisches Gemälde beschreibt Schlattner die aufgewühlte Gästeschar eines österreichischen Kurhauses, in welchem drei Siebenbürger Sachsen wie Außerirdische behandelt werden.

Die Erzählung fällt aus der Reihe, denn sie entstand 1992, als Schlattner bereits als Romanautor das Schreiben wieder aufgenommen hatte. Im Buch finden sich Texte, die Schlattner im Rumänien Ceausescus zu Literaturwettbewerben einreichte. In den Begleittexten der Herausgeberin, die Entstehungskontext, Briefwechsel und Überarbeitungen der Manuskripte erläutert, erfährt man, dass nicht alle der damaligen kulturpolitischen Linie entsprechen. Das macht die Erzählungen interessant als Dokumente ihrer Zeit. Als solche sind sie aufschlussreich und sogar unterhaltsam, ohne Bezug zur Geschichte Siebenbürgens sind sie oft harte Kost.

Neues über Schlattners Rolle als Kronzeuge der Anklage im Kronstädter Schriftstellerprozess von 1958, wegen der er bis heute angefeindet wird, bringen die Texte nicht. War er ein vom System „betrogener Idealist“ oder stilisierte er sich dazu, wie ihm sein Intimfeind Hans Bergel, ebenfalls rumäniendeutscher Schriftsteller, vorwirft? Man erfährt es auch aus diesen Schlattner-typisch autobiografisch geprägten Erzählungen nicht, ebenso wenig in Schlattners ausholenden Kommentaren am Ende des Buches. „Verlassene Geschichten“ nennt er die Fundstücke, in denen er die Geschichte des sühnenden, gleichwohl verlassenen Verräters noch einmal reproduziert.

Eginald Schlattner betreibt Archäologie am eigenen Lebenswerk, allein aus Lust an der Inventarisierung seiner Selbst, des Prototyps des letzten Siebenbürger Sachsen. Schlattner widmet sich jetzt seinen Securitate-Akten. „Mit großer Dankbarkeit“ lese er sie, sagt er. Für alles Vergessene, was dort dokumentiert sei.

NANCY WALDMANN

■ Eginald Schlattner: „Mein Nachbar, der König – Verlassene Geschichten“. Erzählungen. Herausgegeben von Michaela Nowotnick, Schiller Verlag, Bonn/Hermannstadt, 208 Seiten, 16 Euro