heute in hamburg
: „Keine beliebige Ware“

Nahrung Historiker Jürgen Bönig fordert, dass wir diejenigen würdigen, die für unser Essen arbeiten

Jürgen Bönig

Foto: Udo Mölzer

63, Historiker, langjähriger Kurator im Museum der Arbeit, verantwortet Editionen der Stiftung Historische Museen.

taz: Herr Bönig, bei mir zu Hause kommt der Strom aus der Steckdose, das Brot vom Bäcker. Muss ich mehr wissen?

Jürgen Bönig: Ja, weil man die Zusammenhänge kennen muss – aus einer Verpflichtung heraus, diejenigen zu würdigen, die für unsere Nahrung arbeiten. Wenn ich nicht weiß, wer mein Essen produziert, kann ich auch nichts über den Inhalt sagen. Zu wissen, wie all das geschieht, gehört zu einem mündigen Menschen, der Essen nicht wie beliebige Ware behandelt.

Sind wir da ignoranter als unsere Vorfahren?

Heute wohnen die meisten Menschen in der Stadt, während sie Anfang des 20. Jahrhunderts meist auf dem Land lebten und viel konkreter mit der Erzeugung von Lebensmitteln befasst waren – individuell und unbezahlt im Haushalt. Heute spielt sich das gegen Lohn fern des Verzehr-Ortes ab. Das verändert nicht nur unser Verhältnis zu den Lebensmitteln, sondern auch deren Konsistenz – Zusatzstoffe inklusive.

Dann brauchen wir die heutigen künstlichen Lebensmittel ja auch nicht zu würdigen.

Doch. Und wir sollten wissen, dass auch sie das Ergebnis von Arbeit ist, etwa der Verpacker in Asien. Hinzu kommt, dass sich die Würdigung eines Lebensmittels oft nach der Menge richtet statt nach der Qualität. Da sage ich: Lasst euch nicht durch die Gleichförmigkeit verführen, den Genuss genauso gleichförmig zu nehmen. Und würdigt, dass diejenigen, die das Essen produzieren, es sich selbst nicht leisten können.

Wegen Lohndumpings.

Ja. Wir haben in Niedersachsen, durch Niedriglohnpolitik Menschen, die wie vor 100 Jahren in Chicago Schweine zerlegen und so letztlich Druck auf die Schlachtenden in anderen Ländern ausüben. Denn der billige Preis resultiert aus schlechten Löhnen für Leute, die sich dann kein Fleisch mehr leisten können.

Halten Sie also heute einen antikapitalistischen Vortrag?

Ich möchte die Veränderung der Landwirtschaft aufzeigen: Im 20. Jahrhundert haben sich Griechenland, Spanien, Portugal, die Türkei von agrarischen Gesellschaften zu industriellen entwickelt. Der Anteil der Lebensmittel produzierenden Menschen ist geringer geworden. Die daraus erwachsenden Probleme müssen wir ökonomisch, politisch und moralisch betrachten und beachten.

Interview PS

Jürgen Bönigs Vortrag „Wer hat wo und wie für unser Nahrungsmittel gearbeitet?“: 18 Uhr, Universität, Hauptgebäude