Romane zum HörenSenta Berger gibt die blonde Inge in „Tonio Kröger“, Robert Stadlober den Jungen, der keine Party verschlief
: Ein Mann im Zwielicht

Dichter und Werk sind zweierlei, auch wenn Autobiografisches nur allzu gern in die Dichtungen hineingelesen wird – und bisweilen ja auch werden kann. Thomas Mann, der sein persönliches Umfeld als „literarischen Steinbruch“ nutzte, kann in seiner 1903 erschienenen Novelle „Tonio Kröger“ selbst als seine Titelfigur identifiziert werden. Manns emotionale Kälte wird mit seiner nicht ausgelebten „homoerotischen Neigung in Verbindung“ gebracht, die sich wiederum in der Schwärmerei Tonios für Hans Hansen zeigt. Noch dazu ließ ihn die hohe Einschätzung des eigenen Könnens arrogant wirken.

Verschiedene Biografien, die Publikation seiner Tagebücher und die filmische Auseinandersetzung mit Dichter und Werk haben in den vergangenen Jahren die Person Thomas Mann in ein „merkwürdiges Zwielicht“ gebracht, wie der Hörfunkdirektor des Hessischen Rundfunks, Heinz Sommer, notiert.

Aus dieser Gemengelage hat Sommer ein Hörspiel entwickelt, das auf drei Ebenen operiert. Es gibt eine Rahmenhandlung: Zürich, 1954. Der betagte Thomas Mann liest in einem Grand Hotel aus „Tonio Kröger“. Während sich eine alte Dame auf ihrem Zimmer für die Lesung zurechtmacht, hängt sie ihren Erinnerungen und Gedanken nach, sie kennt „Thommy“ gut, denn sie ist die reale „Vorlage“ für die von Tonio angebetete Figur der Inge Holm.

Für Inge Holm gibt es kein reales Vorbild, sagt Heinz Sommer, und aus diesem Grund hat er dieses Vorbild für seine Rahmenhandlung erfunden. Hin und her gerissen zwischen Bewunderung, Verständnis und leiser ironischer Verachtung gibt Senta Berger „die blonde Inge“. Sie kommentiert die Lesung des Nobelpreisträgers (zu hören ist die Aufnahme einer Lesung Manns im Jahr 1954, Ebene zwei) und seinen Aufzug. Sie überlegt, ob sie sich ihm zu erkennen geben soll.

Axel Milberg, wunderbar unnachgiebig, repräsentiert als Professor Wiegand zeitgenössische Stimmen, die kritisierten, dass Mann in „der schweren Zeit“ das Land verließ, statt die innere Emigration zu wählen, und jetzt wohl erwarte, von Deutschland hofiert zu werden.

Auf der dritten Ebene werden die Szenen aus der Lesung zum Hörspiel. Sabin Tambrea lotet mit sonnigem Timbre die zwischen Hochnäsigkeit und Unsicherheit schwankende Person Tonio Kröger treffend aus. Er zeigt, dass Tonio Krögers „Herz lebt“, auf der Suche „nach den Wonnen der Gewöhnlichkeit“. Zusammengehalten wird diese gelungene Mixtur mit der Hörspielmusik von Henrik Albrecht und zeitgenössischen Stücken von Schostakowitsch, Kreisler und dem dänischen Komponisten Hans Christian Lumbye, die für das Hörspiel neu eingespielt wurden.

Rauschende Partys

Lebendige Herzen hat auch die Familie, die der in Nantes geborene Olivier Bourdeaut in seinem Debütroman „Warten auf Bojangles“ zeichnet. Die „Wonnen der Gewöhnlichkeit“ sind allerdings keine Option für sie. Georges ist ein Mann, der zu Geld gekommen ist, der, um Verwirrung zu stiften, gern Lügengeschichten erzählt und gelegentlich Bücher schreibt, die nie veröffentlicht werden. Täglich gibt er seiner Frau einen neuen Namen. Sie teilt seine Vorliebe für, wie sagt man heute so schön, alternative Fakten.

Gemeinsam schmeißen sie rauschende Partys, tanzen zum Song „Mr. Bojangles“ von Nina Simone und genießen ihre unerschütterliche Liebe. Mit von der Partie ist stets ihr Sohn, „der keine Party verschlief“ und aus dessen Perspektive der größte Teil der Geschichte erzählt wird. Er lernt früh, „verkehrt herum zu lügen“, um in der realen Welt bestehen zu können – die alsbald ins Wanken gerät. Denn „Mamans“ Sinn fürs Irreale nimmt überhand, „ihr Kopf macht sich auf die Reise“.

Der 37-jährige Bourdeaut findet kraftvolle Bilder, nicht immer tiefgründig, dafür aber durchaus nachhallend, um die unaufhaltsame Entwicklung und den schmalen Grat zwischen echtem Irrsinn und irrer Lebensfreude zu beschreiben. Robert Stadlober liest den Part des Sohnes, dessen Erkenntnishorizont aufgrund seines Alters begrenzt ist, mit jugendlicher Leichtfüßigkeit, die aber hörbar nah am Abgrund verortet ist.

Gelegentlich meldet sich der Vater zu Wort. Ruhig und abgeklärt, fast wehmütig ist August Zirners Georges, der seine Vorahnungen bestätigt sieht und dessen Liebe zu seiner Frau größer ist als das Leben. Sylvia Prahl

Thomas Mann: „Tonio Kröger“. 3 CDs Hörspiel, 1 CD Hörspielmusik, Gesamtlaufzeit 4 Stunden 52 Minuten. Der Hörverlag

Olivier Bourdeaut: „Warten auf Bojangles“. Ungekürzte Lesung, 3 CDs, 205 Minuten. Osterwold audio/Hörbuch Hamburg