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Ein Haus voller Weisheit

BIBLIOTHEK Das türkische „Collective Çukurcuma“ eröffnet in Neukölln ein „House of Wisdom“ – und zeigt so eindrucksvoll den Selbstbehauptungswillen der türkischen Zivilgesellschaft

Naz Cuguoğlu and Mine Kaplangı vom Istanbuler Collective Çukurcuma Foto: Ingo Arend

von Ingo Arend

„Bagdads intellektuelles Powerhouse“, so beschreiben Wissenschaftler gern ein legendäres Projekt. Im Jahr 825 gründete der Abbasiden-Kalif Al-Mamūn am Ufer des Tigris in Bagdad eine Art Akademie. Das „Haus der Weisheit“ war der kulturelle Grundstein des „Goldenen Zeitalters“ des Islam. Ohne die verschollenen Schriften der griechischen Antike, die hier neu übersetzt wurden, hätte es die europäische Aufklärung nicht gegeben.

Es ist natürlich kein Zufall, dass das Istanbuler „Collective Çukurcuma“ sein jüngstes Projekt nach dem berühmten Haus benannt hat. Während in seiner Heimat Journalisten und Wissenschaftler ins Gefängnis wandern, will das Kollektiv an eine Kultur des Forschens, Lehren und Teilens erinnern. Ein symbolischer Zufall wollte es, dass ihre alternative Bibliothek im Artspace Dialdov genau an dem Tag eröffnete, an dem Präsident Erdoğan in der Türkei das Internetportal Wikipedia sperren ließ.

Naz Cuguoğlu und Mine Kaplangı, die die nichtkommerzielle Kunstinitiative 2015 gründeten, betreiben intellektuelles Empowerment von unten. Der Kunstraum „blok art“, den die jungen Kunsthistorikerinnen und Kuratorinnen in Istanbuls Antiquitätenviertel Çukurcuma betreiben, fungiert dabei als Zentrum vieler, nicht nur künstlerischer Projekte – von der Lesegruppe bis zur Stadtteilbegehung. „Wir wollen progressive Dialoge und Diskurse anstoßen und bei der neuen Generation die fast vergessene Nachbarschaftserfahrung durch lokale und internationale Zusammenarbeit wiederbeleben“, erklären sie. 1989 und 1987 geboren, verkörpern sie selbst eine ganz neue Generation von Kunstakteuren am Bosporus.

Den Kern ihrer Ausstellung, für die sie 36 türkische Künstlerinnen und Künstler gewinnen konnten, sind Bücher. Wer die kleine Galerie im Souterrain betritt, steht direkt vor einer gläsernen Regalwand. Die israelische Künstlerin Yael Bartana hat ihr „Kochbuch für die politische Imagination“, der deutschtürkische Künstler Viron Erol Vert ein Kompendium seiner frühen Modezeichnungen und die iranischstämmigen Künstler Natascha Sadr Haghighian und Ashkan Sepahvand hier ihre „Seeing Studies“ eingestellt, Lehrbuch eines Workshops auf der Documenta 13 vor fünf Jahren in Kabul.

Die Künstler thematisieren Persönliches, aber auch Allgemeines. Mit Schwarzweiß-Tuschezeichnungen in einem aufklappbaren Künstlerbuch erinnert sich Ali Yass an seine Kindheit in Bagdad. In ihrem Buch-Unikat „Museum of Alterations“ dokumentiert Özge Topçu die modernistische Architektur im Ankara der Zwischenkriegszeit. Zu den schönsten Arbeiten gehört der „Fluxkit“. Tuna Erdem and Seda Ergül vom Istanbul Queer Art Collective haben einen altmodischen Reisekoffer mit Postkarten für jedes der Bücher gefüllt, das sie im Fall ihrer Flucht oder Migration in Istanbul zurücklassen müssten.

„To admit authorities, how­ever heavily furred and gowned, into our libraries and let them tell us how to read, what to read, what value to place upon what we read, is to destroy the spirit of freedom“, wird ein Satz von Virginia Woolf zitiert. Der ist erkennbar auf die Zustände in ihrem Land gemünzt.

Die Schau eröffnete zufällig, als Erdoğan in der Türkei Wikipedia sperren ließ

Der Bogen zu den Nazis

Doch sie schlagen auch den Bogen zu Deutschland. Im Hof der nur wenige Meter entfernten Else-Ury-Bibliothek erinnerte die türkische Künstlerin Ekin Bernay zur Eröffnung an die jüdische Kinderbuchautorin, nach der die Bücherei benannt ist. Deren Werke wurden von den Nazis zensiert, die Autorin wurde in Auschwitz ermordet. In einer Materialsammlung im Dzialdov können sich die Besucher über zerstörte und unbekannte Bibliotheken in aller Welt informieren. Und über Recep Tayyip Erdoğans neuestes Projekt: Für eine repräsentative Bibliothek in seinem Präsidentenpalast in Ankara lässt er gerade überall im Land Bücher einsammeln.

Mit ihrem „House of Wisdom“ demonstrieren Naz Cuguoğlu und Mine Kaplangısie den Selbstbehauptungswillen der türkischen Zivilgesellschaft im Angesicht der Diktatur. Es auch in Istanbul zu zeigen dürfte nach dem Verfassungsreferendum nicht einfach werden. Doch mit kritischer Arbeit unter widrigen Bedingungen haben die beiden inzwischen Erfahrung. Das Schicksal des historischen Vorbilds im antiken Bagdad schreckt sie jedenfalls nicht. 1253 legte der Mongolenkrieger Hügalü das „Haus der Weisheit“ in Schutt und Asche.

„House of Wisdom“: Dzialdov. Maybachufer 43, Neukölln; noch bis 4. Juni, sonntags von 13 bis 18 Uhr

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