Roman über den Zweiten Weltkrieg: Läuterung der Mordmaschine

Emmanuelle Pirotte erzählt in ihrem in Frankreich gefeierten Roman „Heute leben wir“ von einem SS-Offizier und einem jüdischen Mädchen.

Amerikanische Truppen dringen in einen brennenden Ort vor

Romanschauplatz Ardennenoffensive: Hitlers Plan, den Hafen von Antwerpen zurückzuerobern Foto: dpa

Wenige Tage vor Weihnachten 1944 starteten die deutschen Streitkräfte, die von den Alliierten im Westen bereits auf das Vorkriegs-Reichsgebiet zurückgetrieben worden waren, in den tief verschneiten belgischen Ardennen eine Gegenoffensive.

Ziel der von Hitler persönlich ausgedachten Strategie war die Rückeroberung des Hafens von Antwerpen, um so die westalliierten Armeen von ihren Nachschublieferungen abzuschneiden und ihren Vormarsch aufzuhalten. Die Überraschung gelang nur kurzzeitig; dann stieß der deutsche Angriff auf massiven Widerstand.

Der Frontverlauf änderte sich mehrfach: Mal waren die Dörfer und Gehöfte der Region von Deutschen besetzt, mal von Amerikanern. So auch der halbzerstörte Vierseithof des Bauern Jules Paquet, wo am 21. Dezember ein ungleiches Paar erscheint: ein einzelner amerikanischer Soldat und ein kleines Mädchen. Paquets Tochter Jeanne „würde es nie vergessen, das Auftauchen dieses seltsamen Paars im kalten Abendlicht, die sonderbaren Blicke, hell seinerseits, tiefdunkel ihrerseits, zwei Augenpaare, die den Eindruck machten, als gehörten sie wilden Tieren, von derselben Horde“.

Später werden die im Keller versammelten Bewohner des Hofs in einer drastischen Szene erfahren, dass der sympathische amerikanische Offizier in Wirklichkeit Deutscher oder vielmehr Deutsch-Kanadier ist (was seine perfekten Englisch- und Französischkenntnisse erklärt), Angehöriger des SS‑Kommandounternehmens „Greif“, bei dem Wehrmachtssoldaten unter dem Befehl des berühmt‑berüchtigten SS‑Obersturmbannführers Otto Skorzeny in US‑Uniformen und mit gegnerischen Gerät ausgerüstet hinter den alliierten Linien Verwirrung stiften und Sabotageakte durchführen sollen.

Rückverwandlung des Opfers in einen Menschen

Das siebenjährige Mädchen, Renée, ist eine jüdische Waise, die Matthias, dem falschen Amerikaner, von ihrem belgischen Beschützer auf der Flucht vor den heranrückenden Deutschen anvertraut worden war. Er, der die Wälder im Norden Kanadas, wo er als Trapper gelebt hatte, verlassen hat, um sich an dem Männerabenteuer Krieg zu beteiligen, half mit, Juden – einerlei ob Kinder, Frauen oder Greise – skrupellos in die Konzentrationslager abtransportieren zu lassen oder sie gleich an Ort und Stelle umzubringen.

Mit der kleinen Renée konfrontiert, erlebt der SS‑Mann die Rückverwandlung des gesichtslosen jüdischen Opfers in einen Menschen. Als er sie sozusagen routinemäßig erschießen will, geschieht etwas Unvorhergesehenes: Renée „wollte ihn sehen. Sie wollte, dass er sie sah. Sie begann sich umzudrehen, ganz langsam, und ihre Augen trafen die seinen. Sie waren hell und kalt. Und plötzlich zuckte darin ein seltsames Schimmern auf, die Pupillen weiteten sich.“ Er schießt nicht. Fortan wird er im Bann dieser starken und freien kleinen Persönlichkeit stehen, in der er sich selbst wiedererkennt.

Emmanuelle Pirotte: „Heute leben wir“. Übersetzt von Grete Osterwald. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017, 288 Seiten, 20 Euro Lesungen mit der Autorin: Heute, 19.30 Uhr, Haus des Buches, Leipzig; Dienstag, 9. Mai, 20 Uhr, Georg-Büchner-Buchhandlung, Berlin

Emmanuelle Pirotte ist Drehbuchautorin. Auch „Heute leben wir“ entstand ursprünglich als Drehbuch (und wird derzeit verfilmt). Die große Kunst der Autorin in ihrem in Frankreich begeistert gefeierten ersten Roman besteht darin, uns in sicherem Ton, weder sentimental noch reißerisch, für die Geschichte eines ganz und gar negativen Helden einzunehmen. Eine „SS‑Mordmaschine“, wie er mehrfach beschrieben wird, die nicht einmal aus politischer Überzeugung, sondern aus purer Abenteuerlust handelt.

Dass er das jüdische Kind, mit dem ihn eine rätselhafte wechselseitige Anziehung verbindet, und die belgische Bauernfamilie, die es beherbergt, unter Einsatz seines Lebens vor seinen mörderischen Landsleuten rettet, erlöst den gefühllosen, brutalen Zyniker von sich selbst und ermöglicht beiden in einer doch etwas sehr hollywoodmäßigen Schlussszene, den gemeinsamen Aufbruch in ein neues Leben.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.