„Sie sind über Leichen gegangen“

KinderklinikJournalist Andreas Babel über Euthanasie-Morde in Rothenburgsort

Andreas Babel

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50, ist Blattmacher der Celleschen Zeitung. 2015 veröffentlichte er das Buch „Kindermord im Krankenhaus“.

Foto: privat

taz: Herr Babel, was passierte von 1940 bis 1945 in der Kinderklinik in Rothenburgsort?

Andreas Babel: Dort wurde eine sogenannte Kinderfachabteilung eingerichtet. Es war eine Tötungseinrichtung, in der behinderte Kinder aufgenommen wurden. In Rothenburgsort wurden mindestens 56 behinderte Kinder während dieser Zeit umgebracht.

Wie viele Ärzte waren an den Euthanasie-Morden beteiligt?

Der Krankenhausleiter und elf seiner Assistenzärztinnen.

Haben alle mitgemacht?

Es gab passiven Widerstand von vier jungen Ärztinnen, die sich weigerten dort mitzumachen.

Hatte das Konsequenzen?

Bei einer Ärztin ist bekannt, dass ihr Pass eingezogen wurde. Bei den anderen hatte die Verweigerung keinerlei Konsequenzen. Sie sind an andere Krankenhäusern gewechselt.

Sie haben herausgefunden, dass zwei der vier widerständigen Ärztinnen vielleicht doch Mörderinnen waren.

Es gab Indizien dafür. Die Fälle können aber nicht belegt werden. Es ist nicht sicher, ob die Ärztinnen wirklich getötet haben oder ob die Kinder eines natürlichen Todes gestorben sind. Von daher muss die Unschuldsvermutung gelten.

Wurden die Morde nach 1945 juristisch verfolgt?

Es gab direkt nach Kriegsende Ermittlungen, die bis 1949 geführt wurden. Jedoch wurde nicht einmal ein Verfahren eröffnet.

Was machten die Ärztinnen denn nach dem Krieg?

Sie praktizierten alle weiter. Die meisten haben sich als Ärzte niedergelassen. Eine Ärztin hat in Celle eine Kinderklinik geleitet.

Was für Konsequenzen haben die Neuigkeiten für die Aufarbeitung?

Wir müssen aufpassen, uns nicht von Obrigkeiten oder Vorgesetzten vereinnahmen zu lassen. Es ist erschreckend, dass so viele gebildete Leute mitgemacht haben.

Wie erklären Sie sich das?

Es war das erste Mal, dass Frauen im Krankenhausbetrieb höhere oder sogar leitende Funktionen einnehmen konnten. Dafür sind sie über Leichen gegangen.

Interview Tobias Brück

Vortrag „Vier Medizinerinnen und die Euthanasie-Morde“: 19 Uhr, Karolinenstraße 35