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Ein Prost auf Hubert Fichte

REENACTMENT In der Jupi-Bar im Gängeviertel übersetzen die Künstlerinnen Greta Granderath und Julia Oliveira die durch Hubert Fichtes Roman legendär gewordene Kellerkneipe „Die Palette“ wieder in einen realen Ort

Irgendwo im Nebel zwischen gestern und heute: In der „Paledde“ im Gängeviertel kann man ganz fiktiv authentisch werden Foto: Jonas Fischer

von Katrin Ullmann

Gerade bin ich aus Paris zurück nach Hamburg gekommen. Gespannt bin ich: Wird hier alles noch so sein wie vorher, wie ich es kenne? Werde ich die anderen wiedertreffen? Neue Marmeladengläser stehen im Schaufenster, vor den alten vergilbten Gardinen. Ein paar Menschen gehen an mir vorbei. Einige sind mir fremd, andere vertraut. Ein junger Mann drückt mir eine weiße Pille in die Hand, eine Frau einen Lippenstift. Ich stehe vor der „Palette“. Zögere kurz, bevor ich hineingehe. Dann öffne ich die Tür, nehme die drei Stufen in die Kellerkneipe, lasse meinen Blick schweifen, atme den vertrauten, verrauchten Geruch.

Meine Geschichte erzählt mir ein Audioguide. Die Stimme in meinem Ohr suggeriert mir mit französischem Akzent, ich sei eine gewisse Anne, jene Frau aus Paris. Sie erzählt mir, welche Sehnsüchte und Gewohnheiten diese Anne hat. Ich schwärme also für einen gewissen Wilfried und seine braunen Augen, bin eine Frau, die schon lange Stammgast ist in dieser Kultkneipe.

Gemeinsam mit zwei Dutzend anderen Menschen besuche ich an diesem Abend die „Palette“ und bin Teil der Veranstaltung „Paledde.reenact reality“. Auf die Retro-Führung mittels Audioguide folgt eine Mittendrinperformance über die „angenommene Atmosphäre“ von einst. Ich werde zum Kartenspielen eingeladen. Frauen tanzen auf den Tischen, der Hamburger Musiker und Künstler Gregory Büttner gibt verschwitzt eine lebende Jukebox und später gibt’s natürlich das eine oder andere Bier am Tresen.

Viel Nebel und Rauch machen dem Sauerstoff Konkurrenz, ein Schminktisch lädt zu einer Reihe von Metamorphosen ein, in einen „Gammler XL“ kann man sich verwandeln oder in einen Popper. Die Fensterfronten haben die beiden RaumgestalterInnen Felix Jung und Lisa Clemen so vernagelt, dass der Eindruck entsteht, die Räumlichkeiten lägen tatsächlich im Keller.

Getränketafeln verweisen auf die 1950er-Jahre, es gibt „Köming“ und natürlich Herren-, aber auch Damengedeck. Immer wieder werden laut Trinksprüche gerufen, zwischendurch geistert eine Frau im Taucheranzug durch den Raum. Das Publikum wird zum Gast und nach ein paar Regieanweisungen auch zum Performer.

Für vier Wochen haben Greta Granderath und Juliana Oli­veira die „Palette“ im Gängeviertel – in der Jupi-Bar – wiedereröffnet. Als performatives Kneipenprojekt. Die „Palette“ gab es ganz in der Nähe, in der ABC-Straße. Damals, in den 1950er- und 1960er- Jahren, war sie Kult, war Treffpunkt für allerlei schräge, literarische, und verlorene Gestalten. Regelmäßige Razzien machten ihr 1964 ein Ende.

1968 dann widmete der Hamburger Schriftsteller Hubert Fichte der Kneipe einen Roman, ein Mitschnitt und zugleich eine Fiktion aus seinen Begegnungen mit den Gammlern und anderen Palettianern. Spätestens seitdem ist die „Palette“ eine Legende, zumindest in Hamburg.

Regelmäßig versuchen sich denn auch (Theater-)Künstler an einer Hommage: 2008 inszenierte Hartmut Wickert die „Palette“ in der Garage des Thalia-Theaters in der Gaußstraße, im Jahr 2000 bereits Schorsch Kamerun am Schauspielhaus – das Regiedebüt des Goldene-Zitronen-Sängers.

Auch für die Lyrikerin Granderath und die Künstlerin Oli­veira bildet der Roman nun den Ausgangspunkt. Allerdings gehe es nicht darum, die echte „Palette“ wiederzueröffnen oder gar nachzuspielen. Stattdessen wollen sie Fichtes Fiktion wieder in einen realen Ort übersetzen und dort mit den Kneipengästen aktiv etwas Legendäres oder Nostalgisches produzieren oder inszenieren. „Immer mit dem Wissen, dass die ‚Palette‘ am 28. Mai wieder schließt“, erläutert Granderath.

Ich öffne die Tür zur Kellerkneipe, lasse meinen Blick schweifen, atme den vertrauten, verrauchten Geruch

Und so ist diesmal die wohl authentischste zeitgenössische „Palette“-Version entstanden – oder, besser gesagt: die lebendigste. „Mac“, dem damaligen Kellner der „Palette“ – heute um die 80 – wird Whiskey eingeschenkt, im Séparée wird unbemerkt auf den Tischen getanzt und Uta Juster – in Fichtes Roman „Heidi“ – findet die nicht ganz so gammelige „Palette-Süd“ im Keller gemütlich. Allabendlich verbünden sich dort Leben und Kunst, Bühne und Tresen, das Damals und das Heute.

Ein paar Kneipenfiktionen folgen noch: An diesem Sonntag etwa laden die Performance-Künstlerinnen Mercedes Tuccini und Coco Charme zu einem Absackerabend ein und am Donnerstag und Freitag ist unter dem Titel „Liibäh, Liibäh, Liibäh oder: Die Bar liebt ihre Enthusiasten“ ein Hörspielraum von Jörg Albrecht und Gerhild Steinbuch zu erleben. Für das Finale haben sich die Performerinnen außerdem ein sehr seitenintensives Format ausgedacht.

Am kommenden Samstag beginnt um 16 Uhr ein „Partizipativer Lese-Musik-Marathon“, der auch live auf dem Freien Sender Kombinat mitzuerleben sein wird: eine sogenannte Auflesung des Fichte-Romans, eine Dauerperformance in 76 Kapiteln. Voraussichtliche Dauer: 24 Stunden. Wer sich als Lesende(r) noch anmelden möchte, kann das auf der Seite zum Projekt tun: www.die-palette.com.

Alle anderen können natürlich einfach nur einkehren in „Die Palette“, können dort die Zeit vergessen, sich einen Drink zu viel bestellen, neue Bekanntschaften machen oder allein am Tresen sitzen, sich glamourös selbst inszenieren oder zur Legende werden.

„Paledde.reenact reality“: noch bis 28. Mai, Jupi-Bar im Gängeviertel, Programm: www.die-palette.com

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