Berliner Szenen
: Religiöse Gefühle

Im Buchladen

Als er sich verabschiedet, atmet die Buchhändlerin auf

Der Mann trägt eine dicke Brille, eine rote Jogginghose und schwitzt. Ob er die Toilette benutzen dürfe, fragt er die Buchhändlerin. Sie zögert. „Bitte, irgendwas stimmt nicht“, sagt er und zeigt auf seinen Magen. „Bitte!“ Sie führt ihn zum Mitarbeiterklo und macht die Tür zum Büro zu, bevor sie sich wieder den Kunden widmet.

Nach Minuten kommt der Mann raus und drückt seine Erleichterung aus. „Uff, jetzt geht es mir gut.“ Dann guckt er sich das erste Mal um. „Was sind das? Kinderbücher?“ – „Ja“, sagt die Buchhändlerin, „Sie sind in einer Kinderbuchhandlung.“ Der Mann ist begeistert und möchte verschiedene Ausgaben von „Tom Sawyer“ sehen. Als er sieht, dass noch die Originalwortwahl im Buch steht, hält er ein Referat darüber, warum es richtig ist, dass das so ist. Dann kauft er das Buch. Als der Mann sich verabschiedet, atmet die Buchhändlerin auf. Doch auf dem Weg zu Tür findet er noch ein interessantes Buch und kauft es. Er zückt einen 50-Euro-Schein und bezahlt. Eine Frau wartet hinter ihm, um ihre Bücher abkassieren zu lassen. Der Mann fragt sie, wo sie herkommt. „Aus Amerika“, sagt die Frau. Wo sie originär herkommt, fragt er auf Englisch. „Bevor ich geboren bin?“, fragt die Frau halb lächelnd. „From my mothers belly!“ Die Buchhändlerin lacht nervös und versucht sich einzumischen. Doch die beiden werden lauter und fangen eine Diskussion an. Als er sich entschuldigt und sie sich versöhnen, atmet die Buchhändlerin ein zweites Mal auf. Die beiden verlassen den Laden.

Kurz darauf sind die nächsten Kunden da. Die zwei Frauen stöbern eine Weile in den Regalen, nehmen ein paar Bücher und fragen plötzlich, ob es einen Raum gebe, um in Ruhe zu beten. Die Buchhändlerin ist verblüfft. Doch sie macht die Musik leiser und erinnert sich, dass irgendwo im Lager ein Teppich rumliegt. Der Boden ist zu kalt. Luciana Ferrando