Der blaue Dunst der Kunst

Kunstrundfahrt Belgien Vom patentierten Blau Yves Kleins bis zum Blau des Himmels über Flandern ist viel zu entdecken. In Ausstellungen in Brüssel, Ostende und Gent stößt man letztlich immer auf politische Kunst

In Gent zu sehen: Gustave Van de Woestynes „Het voorjaar“ (dt.: „Frühling“), 1910 Foto: CaermerskloosterGent

von Brigitte Werneburg

Der blaue Himmel über Brüssel ist erfreulich, nach dem Grau von Berlin. Aber den satten Farbton des IKB trifft er dann doch nicht ganz. Tatsächlich ist er entschieden zu blass. 19 Jahre alt war Yves Klein (1928–1962) als er, 1947 am Strand von Nizza liegend, den Finger in die Höhe reckte und den blauen Himmel signierte und ihn damit zu seinem ersten Monochrom erklärte. Großartig fand er sich schon von Anfang an.

Theatre of the Void

Im Brüsseler Kunst- und Kulturpalast Bozar wird jetzt sein schönes kurzes Leben in einer Retrospektive verhandelt. 30 Arbeiten sind zu sehen, frühe Monochromien in Rot, Pink oder Grün, dann die Leinwände in IKB, also dem von ihm patentierten International Klein Blue, das mit dem Farbroller aufgebracht wurde, um jeden Pinselgestus zu unterbinden. Seine blauen Schwammskulpturen und -bilder verweisen auf seine bedeutendsten Arbeiten, die zwischen 1957 und 1959 für den Neubau der Gelsenkirchener Oper entwickelten wandhohen Schwammreliefs.

Zur gleichen Zeit entstanden seine Anthropometrien, bei denen nackte junge Frauen den Pinsel ersetzten, indem sie sich, mit blauer Farbe beschmiert, auf die Leinwand drückten oder über sie hinwegrollten und -robbten. Fotografien und Filmen dieser Performances zeigen befremdlich kurvenreiche Wesen, deren Bewegungen ein Smoking tragender Yves Klein dirigierte. Damals skandalös, schaut das heute eher putzig als nach Avantgarde aus.

Yves Klein, macht die Schau deutlich, war ein Dandy. Stets gut gekleidet, weiß er sich nicht nur in Szene zu setzen, sondern ganz dezidiert als Marke zu inszenieren. Filme und viele Fotos dokumentieren diesen Vorgriff auf das Pop-Zeitalter. Dass er Kontrolle über den Frauenkörper hat, versteht sich unter damalige Verhältnissen von selbst, als exzellenter Judoka hat er aber auch den männlichen Körper unter Kontrolle. In seinen Bewunderern darf man Fans erkennen.

Time in Motion

Brüssel: „Yves Klein“, bis 20. August, „Pol Bury“, bis 4. Juni, beide im Bozar.

Ostende: „Frans Masereel“, bis 3. September, Mu.Zee

Gent: „Ur – Die Wurzeln ­Flanderns“, Caermersklooster, bis 6. August

Mit Klein kreuzte sich der Weg des belgischen Malers, Bildhauers, Schmuckdesigners, Autors und Grafikers Pol Bury (1922–2005), in der von Heinz Mack und Otto Pine 1958 gegründeten Künstlergruppe ZERO. Bury gilt die Parallelausstellung des Bozar. Der, wie hier deutlich wird, ungeheuer vielseitige Künstler begann als Surrealist, wandte sich nach dem Krieg der Abstraktion und der Gruppe CoBrA zu, bevor ihm die Begegnung mit Alexander Calder neue Wege eröffnete.

Danach wandelte er seine abstrakten Farbstudien in bewegliche Reliefs um, dreidimensionale Objekte, die schließlich zu seinen Ponctuations führten: Aus der monochromen Leinwand ragen mal dichter, mal lockerer gesetzte lange steife Fäden hervor, die sich bewegen. Allerdings extrem langsam und völlig unvorhersehbar, was faszinierend und zugleich ein bisschen eklig anzuschauen ist. Denn die Langsamkeit verwandelt die künstliche Bewegung in eine scheinbar natürliche. Die Stromleitung, die von diesem Organismus an der Wand wegführt, erklärt, warum er bis dato weder in der Natur- noch in der Kunstgeschichte bekannt ist.

Parallel zu Klein nahm auch Burys Karriere international Fahrt auf. 1962 ließ er sich in New York nieder, bis ihn der berühmte Pariser Galerist Aimé Maeght 1968 nach Paris zurücklockte. In der langjährigen Zusammenarbeit mit ihm begann Bury mit Hilfe von Magneten erste kinetische Metallskulpturen zu bauen, dazu kamen kinetische Schmuckstücke und erste Aufträge für monumentale Skulpturenprojekte im öffentlichen Raum. Sie beschäftigten ihn die letzten 30 Jahre seine Lebens.

Absolut beeindruckend ist jedoch sein grafisches Werk aus den 1960er und 1970er Jahren, in dem sich sein Ideenreichtum und übermütiger Witz, aber auch seine reflektierte politische Haltung zeigt. Grafiken, Plakate, Magazine, Kurzfilme machen zusammen mit Multiples seiner Ponctuations einen Großteil seines Werks aus, weil Bury die Meinung vertrat, Kunst müsse zu erschwinglichen Preisen einem Massenpublikum zugänglich sein.

Widerstand in Bildern

Grafik ist das Medium des politischen Künstlers. In Ostende heißt er Frans Masereel (1889–1972), aber auch Dan Perjovschi, Anton Kannemeyer oder Slavs and Tatars, um nur einige der Künstler zu nennen, die in der Ausstellung „Frans Masereel und die zeitgenössische Kunst: Widerstand in Bildern“ mit ihm und seinem Werk in Dialog treten. Im Mu.Zee, wie sich das lokal orientierte, aber beeindruckend global interessierte Museum aan Zee abkürzt. (Das Theater Aan Zee nennt sich natürlich TAZ.) Und dann fällt auf, dass der Himmel über Oost­ende aan Zee noch weit intensiver glänzt als der über Brüssel, aber genügte Yves Klein sein strahlendes Blau?

In Gent, einer da-mals bedeutenden Industriestadt, verdunkelt der Rauch der Fabrikschlote den Himmel auch bei Tag

Frans Masereels Holzschnitte von deutlich sozialkritischem Inhalt sind heute noch ein Begriff. Man erwartet eigentlich keine großen Überraschung, doch genau das ist der Fall. Auf faszinierende Weise hat sein Werk seine Modernität bewahrt und ist jederzeit anschlussfähig an die zeitgenössische Kunst, etwa William Kentridges Animationsfilm „Second-hand Reading“ (2010), einem Flipbook, das die Rassenbeziehungen in Südafrika unter die Lupe nimmt.

Das mag zum einen daran liegen, dass Masereel, bei allem Engagement und aller Verbundenheit mit der sozialistischen Sache, nie Parteigänger war und nicht das politische Tagesgeschehen illustrierte. Zum anderen aber liegt es an seinem formalen Können, seiner Ästhetik: Ein Grafikzyklus wie „Die Stadt“, 1925 im Kurt Wolff Verlag München erschienen, ist schon extrem filmisch angelegt. Abel Gance und Carl Theodor Dreyer wollten mit Masereels zusammenarbeiten, aber nur aus der Holzschnittserie „L’idée“ entstand 1930/32 in Zusammenarbeit mit Berthold Bartosch der gleichnamige Animationsfilm.

Zwanglos, lässig schließen sich Kerry James Marshalls „Dailies“ an Masereels Großstadtbilder, Jazzclubszenen und hingetuschte Straßendemonstrationen an. Der Zeitungs-Comic des afroamerikanischen Künstlers, dessen viel beachtete Retrospektive im Metropolitan Museum in New York im Januar zu Ende ging, greift das Leben schwarzer Jugendlicher in einem Innenstadtbezirk mit hoher Kriminalität auf und macht mit präzisem Strich politische und soziale Benachteiligung genauso sichtbar wie den Wunsch nach Veränderung, für den die schwarze Supermannfigur des Rythm Mastr steht.

In den Vitrinen mischen sich die billigen Hefte des kongolesischen Künstlers Papa Mfumu’eto, in denen er die Schwierigkeiten des Alltagslebens in Kinshasa aufs Korn nimmt, aber auch spirituelle und übernatürlich Fragen aufgreift, problemlos mit Masereels Buchprojekten. Die Kurt-Wolff-Publikation von 1920 „Die Sonne“ mit 65 Holzschnitte, bringt dann den Himmel wieder ins Spiel und eine flämische Kunst zwischen 1880 und 1930, für die sein Blau schon einmal eine große Rolle spielte.

Frans Masereels „La maison dorée“, 1925 Foto: Mu.zee Ostende

Die Wurzeln Flanderns

Sie wird im einstigen Karmeliterkloster in Gent gezeigt und berichtet von einem Wendepunkt in der Kunst- und Kulturgeschichte, insofern diese Kunst ihren Ausgang in der Industrialisierung Flanderns nimmt und sich letztlich als politische Kunst versteht. In Gent, der damals bedeutendsten Industriestadt auf dem europäischen Festland, verdunkelt der Rauch der Fabrikschlote den Himmel auch bei Tag. Die Künstler wie Gustave Van de Woestyne, George Minne, Edgard Tytgat und Valerius De Saedeleer, die ganz bewusst das dreckige Gent verlassen und aufs Land in das Leie­tal ziehen, sind eine Entdeckung. Nicht nur, weil man sie – mit der belgischen Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts kaum vertraut – nicht kennt, sondern vor allem, weil sie sich als beachtliche Maler und Bildhauer erweisen.

Die Straßen, die durch die Dünen zum Strand führen, geometrische, kalte, graue Diagonalen, sie sehen bei Léon Spilliaert, der wie James Ensor aus Ostende stammt, wie aus einem Science-Fiction-Film der 1960er Jahre aus. Andere wie Emile Claus erkennen in den reifen Getreidefeldern, der Flusslandschaft und der bäuerlichen Kultur ein heiteres, ideales Flandern. Dem machte der Weltkrieg erst einmal ein Ende. Danach malen Gustave De Smet, Frits Van den Berghe und Constant Permeke die Wirklichkeit, wie sie sie erfahren: roh, rau und – modern. Bei Hubert Malfait radelt eine Bäuerin souverän auf dem Fahrrad, ganz wie die Städterin. Die Leute gehen in die Kneipe, auf die Kirmes und in den Zirkus.

Leihgeber des größten Teils der Arbeiten, eine Auswahl an Spitzenwerken der wichtigsten Maler dieser Periode, ist die Phoenix Foundation von Fernand Huts, dem Chef des belgischen Logistikriesen Katoen Natie. Entsprechend aufwändig ist die bühnenreife Szenografie der Ausstellung, die glücklicherweise Rik Wouters’ (1882–1916) beschwingte Zeichnungen und farbstarken Ölgemälde in ganz schlichtem Ambiente präsentiert. Ihm richtet das Königliche Kunstmuseum in Brüssel eine große Retro­spek­tive aus, die einen eigenen Bericht wert ist.

Die Ausstellungsbesuche wurden durch benedeluxe.eu unterstützt