Ein stinknormaler Bus

Busfahren Der M29 wird geliebt und gehasst und sogar besungen. Er zeigt seinen Fahrgästen vom Hermannplatz bis Schmargendorf alle Seiten von Berlin – und ist für viele BerlinerInnen ein tägliches Ärgernis, etwa wegen der auf dieser Linie erfundenen Busraupe

Immer auf der Jagd nach den verlorenen Minuten: ein M29 etwa auf der Mitte seiner Fahrstrecke auf dem Kudamm am Adenauerplatz Foto: Stefan Zeitz/imago

von Antje Lang-Lendorff

Der M29er ist eine Buslinie der Gegensätze. Wer die knapp 16 Kilometer lange Strecke von Anfang bis Ende fährt, vom Hermannplatz bis Roseneck oder umgekehrt, sieht viele Gesichter dieser Stadt. Görli und Ku’damm, Omis mit Rollator und Eltern mit Kinderwagen, Anwälte und Arbeitslose, Secondhandshops und Kadewe, Dreadlocks und Fönfrisuren, schicke Villen und schmuddelige Altbauten. Auch der M29er selbst polarisiert: Viele lieben ihn. Und viele hassen ihn.

Rund 60.000 Fahrgäste sind laut BVG täglich in den gelben Doppeldeckern zwischen Kreuzberg und Schmargendorf unterwegs. Im Laufe eines Tages lenken insgesamt 71 FahrerInnen die Busse durch die Stadt.

Ton Steine Scherben setzten der Linie ein akustisches Denkmal: „Mensch Meier kam sich vor wie’ne Ölsardine. / Irgendjemand stand auf seinem rechten großen Zeh. / Das passierte ihm auch noch in aller Herrgottsfrühe / im 29er kurz vor Halensee …“

Dafür muss man wissen: Erst seit 2004 trägt der 29er das M im Namen – für Metrobus. Eingeführt wurde die Linie 29 bereits 1954, als Ersatz für die zuvor eingestellte Straßenbahn über den Kurfürstendamm. Zunächst war der 29er nur zwischen Roseneck und Anhalter Bahnhof unterwegs, später verlängerte man die Strecke bis zum Oranien- und dann bis zum Hermannplatz.

Laut BVG sind tagsüber 23 Busse gleichzeitig auf der Linie unterwegs. Und weil der Verkehr mal besser, mal schlechter fließt, weil vor allem in Kreuzberg gerne mal Lieferwagen in der zweiten Reihe parken, kommt es zu Verspätungen – und damit zur „Pulkbildung“, wie die BVG mehrere direkt hintereinander fahrende Doppeldecker nennt. Ein aus Fahrgastsicht ärgerliches Phänomen: Erst kommt lange kein Bus. Und dann gleich drei auf einmal: die Busraupe.

Die BVG erklärt das folgendermaßen: Wenn ein Bus Verspätung hat, warten mehr Menschen an der Haltestelle. Der Ein- und Ausstieg dauert bei vielen Fahrgästen länger. Also warten noch mehr Leute an der nächsten Haltestelle, es dauert noch länger, bis sie ein- und ausgestiegen sind. Verspätung führt also zu mehr Verspätung.

Manchmal überholen leere Busse volle Busse. Manchmal wende ein Bus, der hinter einem anderen fahre, auch frühzeitig, so BVG-Sprecher Markus Falkner. Das geht aber nur, wenn keine Fahrgäste mehr an Bord sind. Falkner sagt: „Für die Leitstelle ist die Pulkbildung schwer bis gar nicht zu lösen.“ Kaum zu glauben: Die Pünktlichkeit der Linie lag laut BVG 2016 trotzdem bei 85 Prozent – und damit nur leicht unter dem Durchschnitt aller BVG-Busse.

Nie ohne einen Coffee to go

Am Hermannplatz geht es los morgens, der Bus ist noch leer, der Fahrer entspannt, weil er gerade Kaffee trinken durfte und rauchen. „Einmal AB bitte“, mit der rechten Hand das Wechselgeld und das Thermopapier-Ticket eingesackt, mit der linken den Coffee to go vom Café Süß balancierend, unter den linken Arm noch einen aufgebackenen Teigling geklemmt, geht es die Treppe hinauf zur Bus-Beletage.

Der Platz, mein Platz, ist wie fast immer frei. Es ist der Platz direkt rechts von der Treppe, er hat etwas mehr Beinfreiheit als der Sitz am Notausgang im Flugzeug. Der Clou an diesem M29-Ritual ist, dass es so verlässlich ist wie der Wachwechsel am Buckingham-Palace, bis ins Detail: Im Oberdeck angelangt, drehe ich mich halb um die eigene Achse. Und genau in dem Moment, in dem ich mich vorsichtig setzen möchte, gibt der Fahrer Gas und ich werde mit einem Ruck so in das hässlich gemusterte Fauteuil geschleudert, dass der Kaffee ein wenig überschwappt. Solange das klappt, ist es egal, ob der Bus pünktlich kommt. Martin Reichert

Rudeltier mit Ausbrechern

Der M29 hält direkt vor meiner Haustür und vor der taz. Es gibt also nichts Bequemeres, als oben im Doppeldecker zeitunglesend gemütlich zur Arbeit gefahren zu werden. Außer er kommt nicht. Oder plötzlich müssen alle aussteigen und auf den nächsten warten. Oder weil er so voll ist, wenn er dann kommt, dass an jeder Haltestelle das Türchenspiel gespielt werden muss: Menschen stehen in der Lichtschranke, checken aber nicht, dass ihretwegen die Tür nicht zugeht. Dann gibt es an jeder Haltestelle eine mehr oder weniger freundliche Durchsage, bis es weitergeht.

Der M29 ist ja bekanntlich ein Rudeltier mit gelegentlichen eigenbrötlerischen Ausbrechern. Ich mache mir einen Spaß daraus, zu schauen, wie viele M29er auf einmal kommen, oft zwei, gar nicht so selten drei. Jetzt ist wieder Fahrradwetter (ja, ich weiß, es ist immer Fahrradwetter) und ich spiele auf meinem Weg zur Arbeit, wie viele M29er ich in der Zeit überholen kann. Heute fast drei, der letzte fuhr mir noch an der letzten Ampel davon. Anna Böcker

Ein Bus voller Anmut

Alle wollen oben sitzen im M29er, am liebsten ganz vorne, direkt vor den großen Fensterscheiben. Kinder vor allem. In Berlin steht man nicht mehr für Alte auf, den Sitzplatz anbietend. Im 29er aber gehört es zum guten Ton, Kindern den Platz vorne oberhalb des Fahrers oder der Fahrerin zu überlassen. Sie sitzen dann da und man sieht in ihren Gesichtern, wie sie mitsteuern, mitfiebern und besonders lustvoll erschrecken, wenn bei Nieselregeln plötzlich die monströsen Scheibenwischer zu arbeiten beginnen.

Ein Kind an und für sich gehört auf keinen Sockel gehoben, aber die Lütschis im Bus mitsteuern zu sehen, wühlt plötzlich ein bisschen der eigenen Verzückung auf, die man als Kind empfand, wenn man sich durch die Welt bewegte und dabei gefahren wurde, mit der Eisenbahn oder der Tram: Das war die Identifikation mit dem Geschehen des eigenen Lebens. Der 29er bietet, der vielen Schulen und Kitas wegen, die an seiner Fahrstrecke liegen, dafür reichlich Anschauungsmaterial. Sehr anmutig, das! Jan Feddersen

Drama an jeder Haltestelle

Früher, als es noch der 129er war, fuhr ich den Bus M29 sogar aus Spaß: vorn oben im Doppeldecker von Kreuzberg zum Ku’damm – herrlich. Heute hasse ich diese Linie. Der Grund: Nie weiß man, wann der Bus kommt, weil er irgendwo feststeckt, etwa in der Oranienstraße. Und wenn er kommt, weiß man nie, wann er wirklich ankommt.

Den Bus plagt zudem eine ausgesprochene Wetterfühligkeit: Bei Regen oder Schnee ist er häufig überfüllt, weil viele Radler, die ihm sonst im Weg sind, mitfahren wollen – und dann noch meckern, dass es voll ist. Du stehst nicht im überfüllten Bus, du bist der überfüllte Bus, denke ich dann.

Das Schlimmste aber ist die Fehlkonstruktion der Bustüren: Steht nur ein Mensch im unsichtbaren Sicherheitsbereich der Tür, kann diese nicht schließen und der Bus fährt minutenlang nicht los – ein Drama, das sich an jeder Haltestelle wiederholt. Warum baut die BVG nicht Busse, deren Türen prompt schließen wie in U- und Straßenbahnen? Richard Rother

Oder doch lieber zu Fuß?

Zwei Seelen wohnen, ach!, in meiner Brust. Die Faule, die jede Anstrengung vermeidet, und die Effiziente, die Zeit sparen will. Nie geraten sie so aneinander, wie wenn ich auf den M29 warte.

Es sind nur drei Stationen, die ich jeden Tag mit diesem Bus fahren muss. Und fast immer hat er Verspätung. Während ich nun dastehe, tobt in mir ein heftiger Streit: „Geh doch die Strecke einfach, das sind höchstens 15 Minuten zu gehen“ versus „Nein, warte lieber. Der Bus kann jeden Moment kommen. Dann fährt er an dir vorbei und du ärgerst dich“. So geht es minutenlang.

Ich kann mich nicht entscheiden, also halte ich Ausschau nach dem Doppeldecker, der mich aus der Lage befreit. Ich starre wie eine Frau, die nach dem Krieg auf ihren Mann wartet. Und kurz bevor ich die Hoffnung verliere, kommt der Bus. Ich steige ein und Ruhe kehrt ein. Bis ich merke, wie voll es ist und dass es nicht vorwärts geht. Ach, wäre ich doch lieber zu Fuß gegangen. Laila Oudray

Sollen wir einsteigen?

Warten, sprinten, anvisieren: M29-Fahren ist was für Fortgeschrittene. Dabei versuchen die Fahrgäste mit immer neuen Raffinessen in den Bus zu gelangen Fotos: Annette Hauschild/Ostkreuz

Vor ein paar Tagen: Der M29 stoppt an der Haltestelle Spreewaldplatz. Es passiert länger nichts. Irgendwann kommt vom Busfahrer die Ansage: „Also ich hab heute keine Termine mehr. Wenn das bei euch auch so ist, bleibt ruhig weiter auf der gelben Markierung stehen.“

Die M29er-Busfahrer sind schon ein spezieller Menschenschlag, ich glaube, die werden für diese Strecke speziell ausgebildet. Es gibt ja diese schöne Szene aus dem BVG-Clip „Weil wir dich lieben“, wo die Busfahrer darauf trainiert werden, das Betätigen des Knopfes für die Türschließung zeitlich exakt so abzustimmen, dass die Fahrgäste gegen die sich schließende Tür prallen.

Am Startpunkt des M29 vor Karstadt Hermannplatz kommen alle möglichen dieser Varianten zum Einsatz. Variante 1: Der Bus wartet ein Stück vor der Haltestelle. Irgendwann geht die Tür auf – will der Busfahrer noch eine rauchen oder sollen wir einsteigen? Die Leute rennen zum Bus, der schließt die Tür und fährt zur eigentlichen Haltestelle, wo jetzt natürlich keine/r mehr steht. Variante 2: Nur ein Teil der Leute rennt zum Bus, die anderen warten an der Haltestelle. Erstere kommen rein, am Rest fährt der Bus vorbei. Variante 3: Auf der anderen Seite der Urbanstraße stehen die Leute vor der roten Fußgängerampel, der Bus setzt sich in Bewegung und fährt die Haltestelle an. Ein Teil der Fußgänger läuft unter Lebensgefahr in den fließenden Verkehr. Genau zu dem Zeitpunkt, als die ersten die andere Seite der Straße erreichen, fährt der Bus zur roten Ampel vor, wo er länger wartet – rein lässt er niemanden mehr.

Sehr beliebt auch die Bus-Raupe. Es ist Mitte Januar und bitterkalt, Fahrgäste warten vor Karstadt – kein M29 in Sicht. Der Blick schweift über den Hermannplatz und reicht tief in die Sonnenallee rein. Endlich schält sich die Silhouette eines BVG-Busses aus dem Hintergrund. Kommt er wirklich näher oder handelt es sich um eine optische Täuschung? Doch dann kommt nicht einer, nein, es kommen gleich zwei, drei Busse hintereinander. Erstaunlich, wie lange es dauert, bis die ihre Haltestelle erreicht haben. Dann machen die Busfahrer erst mal Pause. Ich schaue mir die Buchauslagen bei Karstadt an. Wenige Minuten später sind alle drei weg. Andreas Berg

Immer, immer und immer wieder

M29, ick hasse dir. Du bist schuld, dass ich ungefähr alle zwei Wochen eine SMS an meinen Chef schicken muss: „Bin leider zu spät, Bus kommt seit 20 Minuten nicht …“ Ist schon ein Runninggag unter KollegInnen: „Na, warum so abgehetzt? Mal wieder mit dem Bus gefahren?“ Selbst schuld, höre ich im Subtext, warum fährst du auch nicht, wie jedeR anständige GroßstädterIn, selbst bei Regen, Sturm und Hagel mit dem Rad.

Nun habe ich selbstredend vollstes Verständnis dafür, dass man im großstädtischen Verkehr mal zu spät kommen kann. Aber: Ich steige morgens an der Haltestelle Pannierstraße ein, das ist exakt zwei Stationen nach der Endhaltestelle Hermannplatz. Liebe BVG, wie kann es sein, dass ein Bus bereits zwei Haltestellen nach Beginn der Fahrt 15 Minuten Verspätung hat??? Zumal am Herrmannplatz in der Regel zwei, drei Busse rumstehen. Noch schlimmer ist die Rückfahrt am Nachmittag oder Abend: Immer, immer, immer fährt einem der Bus vor der Nase weg! Halb so wild, sagen Sie, in fünf Minuten kommt doch der nächste? Pustekuchen. Immer, immer, immer wartet man an der Charlottenstraße, der zugigsten Haltestelle der Welt (muss am GSG-Hochhaus liegen), garantiert 10 bis 15 Minuten – und dann kommen gleich drei Busse!!! Hektisch versuchen sich 100 durchgefrorene Wartende in den überfüllten Doppelstöcker zu quetschen, der schlecht gelaunte Busfahrer ruft: „Nicht drängeln! Da kommt doch schon der Nächste!“ Wer so blöd ist, darauf zu reagieren, und sich dem zweiten Bus zuwendet, guckt in die Röhre: Der braust einfach vorbei. Panisch winkt man dem dritten Bus: Dessen Fahrer ist immerhin so gnädig anzuhalten. Puh, Glück gehabt! Susanne Memarnia

Der Busfahrer, mein Held

Bei mir kommt der M29 immer pünktlich. Ich steige am Hermannplatz ein: Da warten meist schon, ein, zwei Busse. Muss ich erst zur Sparkasse, raucht der Fahrer noch eine Zigarette, bin ich fertig, startet er den Bus, fährt langsam bis zur Haltestelle neben mir her und begrüßt mich beim Einsteigen mit einem freundlichen „Guten Morgen“. Alles super.

Die Verspätung entsteht dann auf der Oranienstraße bis zum Moritzplatz. Und die FahrerInnen können gar nichts dafür: Versperrt ein Zweite-Reihe-Parker dem Bus den Weg und wartet ein entgegenkommender Autofahrer rücksichtsvoll, um den Bus durchzulassen, wird dieser von weniger rücksichtsvollen RadlerInnen überholt. So stehen erst mal beide: Auto und Bus, dem die Radler sonst frontal entgegenkämen.

Der Stau zum Moritzplatz beginnt dann hinter dem Oranienplatz: Ein Kreisverkehr ohne Ampeln ist Mist für den Berufsverkehr. Steht der Bus endlich bereit, in den Kreisverkehr einzufahren, wird er rechts und links von RadlerInnen überholt, sodass selbst autofreie Momente nicht zur Weiterfahrt genutzt werden können. Und die Ausfahrt vom Moritzplatz behindern dann wieder Radfahrer: Indem sie ihr Rechtsabbiegen nicht anzeigen oder sich von der Geradeausspur für Räder doch noch nach rechts in die Oranienstraße fallen lassen, weil sie von der Rechtsabbiegerspur aufgrund ihrer Geschwindigkeit die dann zu enge Kurve nicht hinbekommen würden.

Der letzte Engpass auf meiner Strecke ist dann die Rudi-Dutschke-Straße, wo Radler die Busspur benutzen dürfen. Doch parkt dort ein Auto, überholen viele Fahrradfahrer ganz ohne Schulterblick – was meinen Busfahrer zwingt, ihnen langsam hinterherzufahren, um keinen von ihnen zu überfahren, was er sicher nicht will. Autofahrer sind Mörder, titelte die taz kürzlich. Mir scheint manchmal: Radfahrer sind Selbstmord­attentäter. Eins steht jedenfalls fest: Busfahrer sind HeldInnen. Ich bewundere ihre Gelassenheit. Alke Wierth

"Man lernt aus blauen Flecken"

Minutenlang starren wir gebannt auf das Schaufenster des Bäckers, schauen, ob sich der Bus darin spiegelt. Genau da wird er gleich auftauchen, dieser große, quadratische Schatten. Er muss, er wird, bald. Und dann endlich. Mit kalten Fingern wird in den Taschen gekramt. Hochmotiviert werden Tickets herausgeholt, die dann doch niemand sehen will.

Krachend kommt er um die Ecke. Fehlalarm. Es ist ein Lkw. Allgemeines Seufzen, einige tauschen enttäuschte Blicke aus, andere winken den Fahrgästen des vierten M29er der Gegenrichtung zu, der gerade an uns vorbeirauscht. Zehn Minuten später und wir sehen uns mit einer luxuriösen Entscheidungssituation konfrontiert.

Drei Busse quetschen sich in friedlicher Eintracht in die kleine Lücke der Bushaltestelle am Spreewaldplatz. Welcher von ihnen heute wohl das Rennen in der Oranienstraße macht? Ich setze auf die Drei, ich habe ein Herz für den Underdog. Mutig klettere ich auch heute wieder die Treppe zum oberen Bereich des Busses hoch, mittlerweile allerdings direkt auf allen vieren. Man lernt aus blauen Flecken. Der Bus fährt abrupt an, ich schaffe es gerade noch so, mich in einen der bequemen grauen Sitzschalen zu werfen. Es ist leer, nicht viele meiner Mitwartenden haben sich für den letzten Bus entschieden. Trotzdem bekommen es Fahrgäste im unteren Bereich irgendwie hin, die Türen zu blockieren. „Tür frei machen, wenn ihr heute noch ankommen wollt“, schnarrt der Busfahrer. Immer diese Anfänger, denke ich und lehne mich an die klebrigen Scheiben. Wer hier wohl zuletzt sein Haargel drangeschmiert hat?

Während wir in der Oranienstraße im Stau stehen, schaue ich auf die etlichen Fahrradfahrer herab, die sich am Bus vorbeischlängeln. Ich schätze, sie passieren die Oranienstraße heute zirka zehn Minuten schneller als ich. Ein Fahrrad habe ich auch. Aber auf den M29 verzichten? Dann hätte ich morgens keinen Nervenkitzel und abends viel weniger zu erzählen. Linda Gerner

Deniz Yücel soll wieder M29 fahren

Vielleicht ist diese Buslinie ja nur für die taz eingerichtet worden und wird deshalb von uns zum Mythos erklärt. Aber das kann auch nicht sein, denn da wäre sie ja nicht so voll

Warum dieser Bus so ein Mythos ist, habe ich nie so ganz begriffen. Die Linie 1 – klar, da gab es das berühmte Musical und die fährt so schön hoch auf Stelzen durch die Stadt wie in Chicago, und auch noch von Ost nach West. Aber der M29? Ja mei, ein stinknormaler Bus halt, stickig und so voll, dass ich ihn meistens lieber mied, als wir noch an der Strecke wohnten. Nur an Regentagen stieg ich ein – und traf fast immer einen tazler oder eine tazlerin.

Am häufigsten Christian Specht und Deniz Yücel. Vielleicht ist diese Buslinie ja nur für die taz eingerichtet worden und wird deshalb von uns zum Mythos erklärt. Aber das kann auch nicht sein, denn da wäre sie ja nicht so voll. Voll mit überzeugten Busfahrern wie Deniz, der Autos, Fahrräder, Halbmarathons und andere Korsos nur im Notfall braucht. Das Einzige, was ich mir vom M29 noch wünsche, ist also, dass Deniz wieder mitfährt. Lukas Wallraff

"Allet Jute Ihnen allen"

Ein bisschen toll ist es schon, im M29er oben in der vordersten Reihe zu sitzen, direkt hinter der großen Fensterscheibe. Von hier sieht es immer aus, als würde der Bus in der Oranienstraße gar nicht anders können, als alle anderen Autos und Fahrradfahrer*innen zu rammen. Passiert zum Glück nicht.

Das Fenster wird zur Leinwand und die Stadt zu einem Film in 3-D. Dolby Surround gibt’s auch: Geschichten über stressende Lehrer*innen, übertrieben gekleidete Kolleg*innen und säuselnde Schatzi-Stimmen. Der genervte Grundton von vorne: „Bitte die hintere Tür frei machen!“

Einmal dann der große Auftritt: Rauschen, dann Räuspern im Mikrofon. „Juten Morjen. Ick muss jetze mal kurz sajen, dass meene Tochter heute einjeschult wird. Heute is een juter Tach. Allet Jute Ihnen allen.“ Auch ein Berliner Busfahrer hat mal gute Laune. Das Leben ist gut. Katrin Gottschalk