KRIEGER Ein deutscher Linker war fast sein ganzes Leben in der autonomen Szene aktiv. Weil er keine Perspektive mehr sieht, geht er nach Syrien, um für die Kurden zu kämpfen
: Hat diese Revolution noch Platz für mich?

Manch einer fühlt sich in Syrien frei. Tagsüber sieht man den Horizont, nachts die Sterne über sich Foto: Alle Fotos: privat

von Malene Gürgen (Protokoll)

Das erste Mal unter Feuer? Du hörst das Pfeifen der Raketen, wirfst dich auf den Boden, die Hände über dem Kopf. Als ich neben mir die anderen im Sand liegen sah, alle mit ihren Händen über den Köpfen, musste ich fast lachen, so absurd kam mir die Situation vor. Zurückzuschießen ist dann weniger schwer, als man vielleicht denkt. In einem Gefecht nimmt man Feinde nicht als Mensch wahr, sondern als etwas, das sich bewegt. Meistens passiert das auf Distanzen zwischen 50 und 100 Metern. Es ist laut, du hörst Pfeifen von allen Seiten, versuchst rauszufinden, von wo du beschossen wirst und wohin du schießen musst. Du denkst nicht nach. Du schaust: Wo bin ich, wo sind die Freunde, wie bewege ich mich? Das Nachdenken kommt hinterher.

Ich kämpfe in Syrien auf der Seite der Kurden. Gegen den „Islamischen Staat“, den wir hier Daesh nennen.

Warum ich das tue? Aus verschiedenen Gründen. In den letzten Jahren habe ich angefangen, an dem zu zweifeln, was ich fast mein ganzes Leben lang gemacht habe. Zwanzig Jahre, seit meiner Jugend, war ich aktiv im autonomen Antifaschismus. Aber immer anrücken, wenn es brennt, das ist keine nachhaltige Politik, das ist Hooliganismus. Wenn ich die politische Situation in Deutschland sehe, frage ich mich, was ich bewegt habe. Damit meine ich nicht die AfD. Jeder ist gegen die AfD. Aber wer schiebt Menschen ab, wer verkauft Waffen, wer führt Kriege? Das sind SPD und CDU.

Wichtig für meine Entscheidung waren der Kampf um die kurdische Stadt Kobane und die Nachrichten über die vielen Ertrunkenen im Mittelmeer. Als Daesh im Herbst 2014 Kobane angriff, saß ich tagelang vor dem Bildschirm. Ich kannte Leute aus Deutschland, die da unten waren, und wir haben uns per Messenger geschrieben.

Sie haben erzählt, wie es dort aussieht, wie die Stimmung unter den Kurden ist. Nach einer Weile haben sie gefragt: Und wann kommst du? Aber ich habe keine Ausbildung, die beim Wiederaufbau nützlich sein könnte. Ich war nie beim Militär, ich spreche die Sprache nicht.

Aber dass so viele Menschen auf der Flucht nach Europa sterben, das hat bei mir diesen Impuls ausgelöst: Ich halte das nicht mehr aus auf der Zuschauerbank. Ich wusste nicht viel über Rojava, aber ich habe schon damals geglaubt, dieser Ort könnte den Menschen in Syrien Hoffnung geben. Wenn Rojava ein Erfolg wird, müssen sie vielleicht nicht mehr fliehen. Ich wollte wissen, ob es einen Platz für mich gibt in dieser Revolution.

Während des Kriegs in Syrien zogen sich 2012 die syrischen Regierungstruppen aus den mehrheitlich kurdisch besiedelten Teilen Nordsyriens zurück. Die kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) und deren militärischer Arm, die Volksverteidigungseinheiten (YPG), kontrollieren das von ihnen Rojava genannte Gebiet. Im Januar 2014 erklärte die Region ihre Unabhängigkeit. Kein Staat hat sie anerkannt. Die PYD sagt, sie wolle den Staat zugunsten einer ethnisch und religiös pluralen, selbstverwalteten Zivilgesellschaft abschaffen.

Bevor ich im März 2015 zum ersten Mal nach Rojava gereist bin, habe ich etwas Kurdisch gelernt und mich über die Region informiert. Wohin ich gehe, habe ich nur wenigen Freunden erzählt. Kurz vorher war die deutsche Freiwillige Ivana Hoffmann im Kampf getötet worden. Die Behörden waren aufmerksam. Einer Deutschen, die nach Kobane wollte, wurde am Frankfurter Flughafen die Ausreise verweigert.

Für westliche Freiwillige, die zur YPG wollten, existierten damals zwei Wege: Für die unpolitischen Leute ohne Kontakte gab es die Lions of Rojava, eine westliche Einheit in der YPG, mit der man über Facebook Kontakt aufnehmen konnte.

Was ist das Problem? Für diese Geschichte gibt es nur eine Quelle, den Erzähler. Und der will so wenig wie möglich über sich verraten. Wir hatten das Interesse, seine Geschichte so weit wie möglich zu prüfen.

Wie lief das? Die Autorin hat den Protagonisten mehrfach getroffen, Details wiederholt nachgefragt und mit seinen Freunden gesprochen. Die Redaktion hat seine Erzählungen anhand von Nachrichten in Medien überprüft, für die es mehrere Quellen gibt.

Was ist mit den Bildern? Wir bekamen sie mit veränderten Metadaten, weder der Ort noch die Zeit der Aufnahmen sind erkennbar. Über Bildersuchen, Vergleiche von Ortsmarken, Waffen und Kleidung haben wir geprüft, ob die Bilder zum Geschilderten passen. Manipulationen haben wir unter anderem mit dem Abgleichen von Schatten und Bildschärfen ausgeschlossen.

Leute mit politischen Kontakten gingen zur Einheit der türkischen Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei. Ich bin in die türkische Stadt Suruc gefahren, dort hatte ich einen Kontakt. Der hat mich über die Grenze nach Kobane gebracht und von dort nach Ra‘s al-‘Ain das ist auch eine Stadt unweit der syrischen Grenze.

Dort haben die westlichen Freiwilligen ihre Ausbildung bekommen. Zwei Wochen hat das gedauert, wir sind alle Waffentypen einmal durchgegangen. Ich habe mich dem International Freedom Battalion der Marxistisch-Leninistischen Partei angeschlossen. Es ist der YPG unterstellt und besteht vor allem aus Türken plus einigen westlichen Freiwilligen.

2014 gab es erste Meldungen über nichtkurdische Freiwillige in der YPG. Wie viele es in der Organisation gibt, ist nicht bekannt, die Zahl ihrer Soldaten wird meist mit 10.000–20.000 angegeben. Sie ist Teil des 2015 gebildeten Militärbündnisses Syrian Democratic Forces (SDF), dem wichtigsten Partner der von den USA geführten internationalen Koalition gegen den „Islamischen Staat“.

Mit orthodoxen Kommunisten und Stalinisten wollte ich in Deutschland nichts zu tun haben. Aber in der Marxistisch-Leninistisch Kommunistischen Partei gibt es viele, die sich so ­bezeichnen. Eine Frau hat sich mir als Maoistin vorgestellt. Während der Operation in al-Hawl kreisten die amerikanischen Predator-Drohnen ständig über uns. Die haben aus der Luft gearbeitet, wir am Boden. Und jedes Mal, wenn eine Drohne etwas weggebombt hat, haben die Leute um mich herum gejubelt, obwohl sie überzeugte Anti­imperialisten waren.

Ich habe sie gefragt, warum sie das tun, aber eine richtige politische Diskussion habe ich mit denen nie führen können. Mein bisschen Kurdisch hat mir in meinem ersten Jahr nichts gebracht, denn in unserer Einheit wurde Türkisch gesprochen.

Am 31. Oktober 2015 begannen Truppen der Syrian Democratic Forces mit ihrer Offensive auf die syrische Kleinstadt al-Hawl nahe der irakischen Grenze. Am 13. November nahmen SDF-Soldaten die Stadt ein und stießen danach weiter nach Süden vor. Der „Islamische Staat“ wurde aus einem Gebiet von 1.400 Quadratkilometern zurückgedrängt, die Operation gilt als erster großer Erfolg des Militärbündnisses.

Meine Einheit arbeitete sich während dieser Operation an der alten syrisch-irakischen Grenze von einem verlassenen Posten zum nächsten vor. Es war November, es war kalt, die Wüste war in der Regenzeit eine riesige Schlammpfütze. Die Betonhütten an den Grenzposten hatten keine Fenster und Türen. Beim Schlafen wehte mir Regen ins Gesicht. Morgens standen alle um den kleinen Benzin­ofen, um sich aufzuwärmen. Einmal am Tag kam das Logistikauto mit Essen – meistens Dürüm mit Hähnchen. Die waren oft nicht mehr gut, deshalb habe ich mich an unsere Vorräte gehalten: Brot, Schmelzkäse, Thunfisch.

Im Krieg sein bedeutet meistens: Warten. Du sitzt in der Wüste und wartest auf den nächsten Befehl, die nächste Entscheidung. Die meisten Freiwilligen kommen aber, weil sie Gefechte erleben wollen.Die kulturellen Unterschiede machen es noch schwieriger: Du musst deine Jacke immer anbehalten, auch bei 45 Grad im Schatten. Die Frauen ziehen ihre Jacken nicht aus, weil sich das nicht gehört, und aus Respekt machen es die Männer genauso. Alles, was mit Sexualität und Körper zu tun hat, ist sehr streng geregelt: Man sagt zum Beispiel nie, dass man auf Toi­lette geht. Wer duschen will, trägt sein Handtuch nicht offen herum.

Die meisten westlichen Freiwilligen werden ertragen. Die Kurden halten es aus, dass sich die Westler danebenbenehmen: nicht ordentlich sitzen, fluchen, immer selbst reden, statt zuzuhören. Die Kurden hoffen, dass die Freiwilligen die Revolution in ihren Heimatländern bekannter machen und die internationale Unterstützung größer wird. Ob Rojava eine Zukunft hat, wird nicht an der Front entschieden, sondern in der internationalen Politik.

„Krieg ist schmutzig, auch wenn du glaubst, für eine gute Sache zu kämpfen“

Ich habe versucht, das Warten sinnvoll füllen. Schon wegen der Sprachprobleme hat man als Westler viel Zeit mit sich allein. Man muss lernen, sich Fragen selbst zu beantworten. Ich habe viel nachgedacht und Tagebuch geschrieben. Jeden Tag mehrere Seiten. Das habe ich vorher nie gemacht. Und ich habe viel gelesen. Zum Glück hatte ich ein paar Bücher mitgebracht: „Mein Katalonien“ von George Orwell und etwas von Machiavelli, aber das habe ich schnell verloren.

Den anderen Freiwilligen stelle ich immer die gleiche Frage: Warum bist du hier? Darauf eine Antwort zu haben ist das Wichtigste. Für die anderen und für mich. Wenn dir die Beine weggeschossen werden und du nie wieder laufen kannst, musst du wissen, warum du gekämpft hast. Viele Leute wollten einfach weg von ihren Problemen. Das ist eine Scheißantwort. Wenn dir dann was passiert, wird dich das im Kopf kaputt machen.

Ich habe einen jungen Kanadier getroffen, der hat gesagt, er wolle seine Familie vor Daesh beschützen. Seine Familie in Kanada. Ich habe ihn gefragt, ob er wirklich glaubt, dass er hier richtig ist. Im Dezember wurde er in der Rakka-Offensive getötet.

Der Australier Ashley Johnston gilt als der erste westliche YPG-Freiwillige, der in Syrien getötet wurde. Er starb im Februar 2015. Von mehr als 20 ausländischen Freiwilligen gibt es Berichte, sie seien ums Leben gekommen. Das erste deutsche Todesopfer war die 19-jährige Ivana Hoffmann aus Duisburg, die im März 2015 beim Kampf umd die Kleinstadt Tell Tamer etwa 50 Kilometer südlich der syrisch-türkischen Grenze starb.

Bei den Leuten, die eine Antwort haben, mischen sich politische und persönliche Gründe. Manche wollen nur Islamisten bekämpfen, die kurdische Revolution ist ihnen egal. Das ist das eine Extrem. Das andere sind Leute mit abstrakten politischen Begründungen: Ich bin hier, weil ich Antiimperialist bin.

Bei den persönlichen Gründen ist die Spannbreite ebenso groß: Du bist frustriert oder auf der Suche nach einer neuen Perspektive. Deine Freundin hat mit dir Schluss gemacht. Du läufst vor deiner Drogenabhängigkeit oder einem Haftbefehl davon.

Ich habe nach einer neuen Perspektive gesucht. In den Monaten davor stellten sich in Berlin viele Freundschaften als oberflächlicher heraus, als ich gedacht hatte. Mir ist viel weggebrochen von meinem Umfeld und mich hat wenig in Deutschland gehalten.

In Syrien habe ich mich immer frei gefühlt. Jeden Tag sieht man den Horizont und jede Nacht die Sterne. In Deutschland wird dein Leben von Kleinigkeiten, unwichtigen Aufgaben und Terminen bestimmt, dort beschränkst du dich auf das Essenzielle. Ich hatte jeden Tag so viele neue Eindrücke. Berlin schien nicht 4.000 Kilometer weit weg, sondern fünf Jahre. Dieses Gefühl hatte ich ganz klar: Das ist keine Distanz in Entfernung, sondern in Zeit.

Wenn die kurdischen Soldaten in Überzahl angriffen, waren die Gefechte oft schnell vorbei

Das Zurückkommen nach meinen ersten Monaten in Syrien war für mich nicht so glücklich. Ich hatte fast niemandem erzählt, wo ich war, aber es wussten sehr viele. Für meine Freunde war es sicher leichter, wenn sie mit anderen über meine Entscheidung reden konnten. Aber das hätte mich in Gefahr bringen können.

Die YPG in Syrien ist in Deutschland nicht als Terrororganisation eingestuft. Bislang heißt es zudem aus deutschen Sicherheitsbehörden, es gebe kein Interesse an einer strafrechtlichen Verfolgung. Am 2. März hat das Bundesinnenministerium jedoch verboten, Symbole und Fahnen der YPG zu verwenden. Ob das der erste Schritt zu einem Verbot ist, mit dem die Tätigkeit für die Organisation unter Strafe stünde, ist ungewiss.

2015 wurden die Westler kaum an vorderster Front eingesetzt. Die meisten drängen aber darauf. 2016 hat die YPG ihnen gegeben, was sie wollten. Die Manbidsch-Operation in diesem Sommer war etwas ganz anderes als das, was ich davor mitbekommen hatte. Manbidsch ist eine 100.000-Einwohner-Stadt und sie war voller Kämpfer. Die Eroberung lief sehr, sehr blutig ab, ein Fleischwolf, in dem viele gestorben sind, auch viele Westler. Immer Jüngere rückten nach. Viele waren unerfahren, haben nachts geraucht, ihre Position verraten und wurden erschossen.

Meine Einheit wurde nach Manbidsch gefahren, als es bereits einen halbwegs gesicherten Weg in die Stadt gab. Von einem Stützpunkt aus kämpften wir uns weiter, Haus um Haus, Straßenzug um Straßenzug. Meistens bleibst du für ein paar Tage in einem Haus, bis du den nächsten Vorstoß machst. Überall in der Stadt waren Scharfschützen, Sprengfallen und Minen, das sind die drei Sachen, die Daesh kann. Auch die Häuser waren vermint. Der Erste, der reingeht, weiß, dass er vielleicht gleich stirbt.

Tagsüber darfst du nicht an die Fenster gehen, weil dich Sniper erwischen könnten. Wenn du Wache hast, musst du einen Bereich der Straße und der Häuser im Blick behalten, zwei Stunden bist du hochkonzentriert, versuchst herauszufinden, wo Sniper auftauchen könnten. Dann hast du vier Stunden Pause, in denen du schläfst, oder versuchst dich und deine Waffe sauber zu machen. Es gibt nur sehr wenig Wasser. Oder du musst Zeit rumbringen. Meine Strategie ging so: In einem neuen Haus habe ich als Erstes nach der Wohnung mit der besten Küche gesucht. Die habe ich sauber gemacht und aus den anderen Küchen Sachen dorthin geholt: Tee, Zucker, was ich gefunden habe. Ich habe die Küche für uns eingerichtet. Die anderen glaubten irgendwann, ich finde Putzen toll. Einmal haben sie mich extra geweckt, weil sie dachten, ich will dabei sein, wenn sie aufräumen.

Nachts kommen die Logistikpanzer, bringen Essen, Wasser und Zigaretten zu einem bestimmten Haus, dort rennst du dann hin mit einem Kartoffelsack und holst die Ration für deine Einheit ab. Daesh versucht die Panzer abzuschießen, einmal ist ihnen das zwei Nächte in Folge gelungen. Als das passiert ist, waren wir in einem Haus mit Kiosk im Erdgeschoss. Als ein amerikanischer Drohnenangriff das Haus auf der anderen Straßenseite getroffen hat, wurde der Rollladen von dem Kiosk auch weggesprengt. Dann sind wir rein in die Trümmer und haben geholt, was da war. Für die nächsten zwei Tage gab es syrische Süßigkeiten.

Der Feind

„Scharfschützen, Sprengfallen und Minen, das sind die drei Sachen, die Daesch kann. Auch die Häuser waren vermint. Der Erste, der reingeht, weiß, dass er vielleicht gleich stirbt“

Wir wussten, dass noch viele Zivilisten in der Stadt sein müssen, aber nur an den Silhouetten hinter den Fenstern, an der Bewegung einer Jalousie oder an den Schatten, die zum Wasser holen über die Dächer huschen, habe ich gemerkt, dass die Stadt voller Menschen ist.

Ich stand die ganze Zeit unter Stress, aber ich habe das irgendwann fast nicht mehr gemerkt. Wenn du draußen bist und wieder dieser süßliche Geruch um dich herum ist, dann schaust du irgendwann nur noch, dass du nicht direkt drinstehst in der Leiche, von der dieser Geruch kommt. An die Toten in den Straßen hast du dich gewöhnt. „Ich will nicht mehr“, das gibt es ohnehin nicht. Du machst deinen Job.

Mit der Offensive auf die mehrheitlich arabische Stadt Manbidsch begannen die internatio­nale Koalition und die SDF am 31. Mai 2016. Sie wollten die Verbindungen des „Islamischen Staates“ von Manbidsch bis zur türkischen Grenze kappen. Ab dem 10. Juni war die Stadt von SDF-Einheiten eingekesselt. Noch etwa 2.000 IS-Kämpfer sollen sich in der Stadt befunden haben, dazu Tausende Zivilisten. Bis zum Sieg am 27. August sollen nach Angaben der SDF auf ihrer Seite 264, auf Seiten des IS 4.180 Menschen gestorben sein. Der IS beziffert die Zahl der eigenen Verluste auf 400 und die der SDF auf 1.650.

Während meiner Zeit in Syrien hatte ich nur einmal echte Zweifel. Das war im letzten August. Wir sollten die Stadt Dscha­rabulus befreien. Zweieinhalb Wochen habe ich mich mit meiner Einheit auf die Stadt zu bewegt, meistens zu Fuß. Jede Nacht haben wir ein Dorf gemacht. Bei Einbruch der Dunkelheit sind wir in ein Dorf reingegangen, zuerst der Spotter mit dem Thermalsichtgerät, das war oft ich. Wir durchsuchten leise die Häuser, fragten die Bewohner, ob sie wissen, wo Daesh ist. Meistens gab es ein Haus, in dem zwei oder drei Kämpfer stationiert waren. Manchmal flohen sie, wenn sie uns bemerkt haben. Gefechte waren meist schnell vorbei, weil wir immer in der Überzahl waren. Dann bezogen wir selbst Stellung in einem Haus, oft gab es nachts noch ein Essen mit den Dorfbewohnern, sechzigjährige Schafhirten wollten mit uns tanzen. Am Tag haben wir ein paar Stunden geschlafen, dann ging es weiter zum nächsten Dorf.

Ein paar Kilometer vor Dscharabulus hieß es dann: Die Türkei kommt uns entgegen. ­Gegen eine Nato-Armee kämpfen, das wäre eine andere Nummer gewesen. Wir waren nervös, wir warteten. Dann hieß es: Rückzug. Also sind wir den größten Teil der Strecke, die wir in den letzten zweieinhalb Wochen gemacht hatten, wieder zurückgefahren.

Nachts kamen wir in dem Dorf an, wo wir bleiben sollten. Ich konnte nicht schlafen und bin raus auf das Dach eines Hauses. Vor mir lag die Ebene und da waren überall Lichter, lange Schlangen von Lichtern. Erst wusste ich nicht, was ich da sehe, dann habe ich kapiert: Die Menschen flohen mit ihren Autos aus dem Vakuum, das wir mit unserem Rückzug hinterlassen haben. Ich wusste, da sind die Leute dabei, die mir ihr Essen gegeben haben, die mit mir getanzt haben. Ich wusste, dass Daesh die Zivilisten, die die YPG unterstützt haben, umbringt, wenn sie können. Ich habe mich geschämt wie noch nie in meinem Leben.

Fahrt durch erobertes Gebiet, verlassenes Haus des sogenannten „Islamischen Staates“

Wahrscheinlich war es richtig, sich zurückzuziehen. Es hieß, die Amerikaner hätten das verlangt, und auf deren Unterstützung ist die YPG angewiesen. Eine Konfrontation mit der Türkei wäre nicht klug gewesen. Aber in diesem Moment war ich wütend, weil alles in den vergangenen zwei Wochen umsonst gewesen war, weil ich die Situation der Leute in den Dörfern verschlimmert hatte, statt sie zu verbessern.

Aber dieser Moment ist vorbeigegangen, ich bin runter von dem Dach, es ging noch ein Dorf weiter zurück in dieser Nacht. Dort konnte ich dann endlich schlafen. Ich habe verstanden, dass solche Momente zum Krieg dazugehören, und habe mich entschieden, dass ich dort trotzdem richtig bin.

Noch vor dem Ende der Manbidsch-Operation stießen SDF-Einheiten auf die vom IS kontrollierte Stadt Dscharabulus an der syrisch-türkischen Grenze vor. Am 24. August überquerten Einheiten der türkischen Armee die Grenze nach Syrien und griffen nach eigenen Angaben sowohl Stellungen des IS als auch der YPG an. Am gleichen Tag forderten die USA die YPG offiziell auf, sich bis in das Gebiet östlich des Euphrats zurückzuziehen. Offiziell wird Manbidsch seitdem von einem unabhängigen Militärrat verwaltet, de facto soll die SDF aber weiterhin die Kontrolle über die Stadt besitzen.

Diese Wochen haben mich verändert: Ich merke, dass ich viel harmoniebedürftiger bin als früher. Sich wegen Kleinigkeiten aufregen oder mit Leuten streiten, das mache ich nicht mehr. Und Silvester kann ich schwer aushalten, diese Geräusche lösen sofort Stress bei mir aus. Mein Kopf weiß, dass es nur Silvester ist, aber ich merke, wie sich mein Körper anspannt, wie ich plötzlich das Gefühl bekomme, dass meine Waffe fehlt.

Ich habe in Syrien schnell gemerkt, dass das Militärische mein Gebiet ist. Ich habe Fähigkeiten, die ich dort einsetzen kann: ruhig bleiben, den Überblick bewahren, mit Hierarchien zurechtkommen, mit Entbehrungen. Aber das ist es nicht, was mir meine Frage beantwortet hat, ob ich dort einen Platz habe. Das ist erst sehr spät gekommen, im Herbst 2016. Anderthalb Jahre nachdem ich das erste Mal in Syrien war.

Frauen ziehen ihre Jacken auch bei Hitze nicht aus. Aus Respekt machen es die Männer genauso

Da hatte ich das erste Mal die Gelegenheit, etwas vom zivilen Leben zu sehen. Vier Wochen lang bin ich mit anderen westlichen Freiwilligen durch Rojava gefahren. Wir haben ein Flüchtlingslager besucht und einen landwirtschaftlichen Kollektivbetrieb. Wir haben uns mit Leuten getroffen, die uns erzählt haben, wie die Selbstverwaltungsstrukturen funktionieren, wie sie versuchen, eine neue Gesellschaft aufzubauen. Für mich hat sich da bestätigt: Rojava ist das Beste, das Fortschrittlichste, was in dieser Region seit Hunderten Jahren passiert. Davon bin ich überzeugt, und diese Reise hat meine Entscheidung bestätigt.

Ich weiß, diese Entscheidung bedeutet, dass ich dort sterben kann. Das habe ich akzeptiert. Ich glaube, für meine Freunde in Deutschland ist das sehr schwer zu verstehen, aber dort zu sein ist das, was ich mit meinem Leben machen möchte. Und das schließt die Möglichkeit des Todes ein, das ist einfach so.

Mit Rojava ist es wie mit jeder anderen Sache auch: Es gibt das Ideal, und es gibt die Realität. Wenn ich in Berlin erzähle, wie es dort ist, fragen meine Freunde: Wie, es gibt dort Knäste? Die haben eine romantische, eine idealisierte Vorstellung: Rojava, das absolut Gute, gegen Daesh, das absolut Böse. Genauso wie es diese romantische Vorstellung vom Krieg gibt, in der die westlichen Freiwilligen in der YPG mit den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg gleichgesetzt werden. Damit konnte ich nichts anfangen, bevor ich da hingegangen bin, und damit kann ich immer noch nichts anfangen.

Krieg ist immer schmutzig, immer grausam, auch wenn du überzeugt bist, für eine gute Sache zu kämpfen. In Rojava sind nicht alle politischen Ideale verwirklicht, nicht alle dort sind bessere Menschen.

Aber das, was dort passiert, ist der Aufbau einer neuen Gesellschaft, mitten im Krieg. Das ist eine Revolution, und ich habe mich entschieden, Teil dieser Revolution zu werden.

Der Protagonist dieser Geschichte ist Mitte dreißig und lebt in Berlin. Weil die deutschen Behörden sein Handeln für strafbar halten könnten, will er anonym bleiben.

Malene Gürgen, 26, schreibt in der taz normalerweise über Berlin statt Syrien.