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Berliner SzenenImPflegeheim

Fast wie in den 90ern

Er spielt ein Läufer­fianchetto, ich ­antworte abwartend

Es ist Vormittag, die Sonne scheint, ich bin voll ­Tatendrang. Eben noch in der Arztpraxis, nun schon wieder auf der Straße, und es ist kaum halb zehn. Ich rufe M. im Pflegeheim an, kündige meinen Besuch an und schlendere Richtung Neukölln. In einer gut aussehenden Bäckerei in der Karl-Marx-Straße kaufe ich ein Gebäck. Die Sachen hier sind viel billiger als in meiner Gegend. Es ist schön, in der Sonne spazieren zu gehen.

Der Fahrstuhl im Pflegeheim ist der langsamste der Welt. Es ist M.s drittes Zimmer in drei Monaten, jeweils mit einem neuen Zimmernachbarn. In der Vormittagssonne, die durch die Gardinen fällt, sieht sein Gesicht blasser aus als das letzte Mal. Seit er hier ist, hat sich sein Gesundheitszustand verbessert. Wir besprechen die letzten Fußballergebnisse. Er zeigt mir die Tabelle der Tipprunde. Ansonsten gibt es nicht viel zu tun. Die Zeitungen sind ja auch schnell weggelesen.

Seine Schrift ist krakelig, weil die Finger immer wehtun. Ich begleite ihn zur Physiotherapie. Während er in die Pedalen des Ergometers tritt, sitze ich wippend auf seinem Rollator. Die gut gelaunte Physiotherapeutin beobachtet die Kon­troll­geräte und isst eine Karotte dabei. ­Später sitzen wir in seinem ­Zimmer über der Straße und spielen Schach. Wie in den 90er Jahren eigentlich, nur ohne kiffen. Er spielt ein Läuferfianchetto, ich antworte abwartend. Erst sieht es gut für ihn aus; dann gerät er auf die Verliererstraße. Ein Pfleger bringt Essen und kommentiert: „Spanische Eröffnung.“ Es ist aber gar keine spanische Eröffnung. Wir spielen noch ein Spiel und gehen dann raus.

Vor drei Monaten war er noch im Koma gewesen, nun schafft er es schon wieder bis zum Hermannplatz. Begeistert erzählt er von der Gegend. Nur die Langeweile im Heim treibe ihn langsam in den Wahnsinn.

Detlef Kuhlbrodt

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