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„Mit Klang kann man nicht schummeln“

Neue Musik „The Long Now“ hieß die 30-stündige Abschlussveranstaltung des 10-tägigen Festivals Maerzmusik, bei der auch der ikonische Klangexperimentator Alvin Lucier aus den USA wieder im Kraftwerk performte

von Tabea Köbler

Alvin Lucier sitzt regungslos und gespannt in einem roten Pullover auf der Bühne und schaut auf Hunderte Feldbetten. Mit geschlossenen Augen lässt sich das Publikum auf der 30-stündigen Abschlussveranstaltung „The Long Now“ des Maerz­musik Festivals für Zeitfragen in die Metamorphose von Text zu Resonanzklang fallen. „I Am Sitting in a Room“, ein bekanntes Stück für Stimme und Tonband von 1970. Lucier hat einen Text eingesprochen, der erklärt, was geschieht, spielt ihn immer wieder in den gewaltigen Raum des Berliner Kraftwerks mit den nackten Betonwänden und nimmt die Wiedergabe jedes Mal erneut auf.

Etwa nach der fünften Wiederaufnahme des eingesprochenen Texts beginnen sich die S-Laute deutlich zu verschärfen, und ein Fiepen haftet ihnen an. Nach etwa zwanzig Minuten ist fast nur noch die natürliche Resonanz des ursprünglich gesprochenen Texts zu hören. Die Worte haben ihre Form verloren. Stattdessen beginnen sich die wogenden Resonanzen sich selbst zu verstärken.

Alvin Lucier ist Komponist und Klangkünstler. 1931 wurde er im amerikanischen Na­shua, New Hampshire geboren. Seine Stücke balancieren zwischen Performance, Komposition und wissenschaftlichem Experiment: Sie forschen nach dem Wesen und der Wirkung von Klang und nutzen die natürliche Schwingung von In­stru­menten und Dingen. Insgesamt sechs seiner Stücke fanden im Programm der Maerzmusik Zeit. Kein Versuch, dem jüngsten Stück Gegenwart hinterherzulaufen. Der rasanten Halbwertszeit von aktueller Musik setzt das Festival Jahr die Geduld entgegen, schwerpunktartig das Œuvre einiger weniger Komponisten zu vertiefen – etwa das von Alvin Lucier.

Mit winzigen Schritten bewegte sich dieser am Dienstagabend über die Bühne im Haus der Berliner Festspiele. In der Performance „Bird and Person Dyning“ von 1975 schaukelten sich die binauralen Mikrofone in seinen Ohren und das synthetische Vogelzwitschern aus den Lautsprechern gegenseitig zu einer schrillen, unvergleichlich intensiven Zufallssinfonie aus Feedback und psychoakustischen Phantomtönen auf. Viele Gesichter im Publikum verrieten Anspannung. Einige verließen sogar unwirschen Schrittes den Raum. Dann löste sich alles in tosendem Applaus.

„Meine Erziehung war eine der Ausweitung“, sagt Lucier. Er glaubt fest daran, dass man sich Musik immer ausliefern muss, um ihre Schönheit zu finden. Dem Programm der Maerzmusik ist dieselbe Einladung an ein Publikum mit rund sechzig Jahren Altersspanne, sich einem breiten Spektrum (Neuer) Musik auszuliefern, zehn Tage lang immer wieder gelungen. Zusätzlich widmete sich das Festival auf theoretischer Ebene mit der Konferenz „Thinking Together“ den diversen gesellschaftlich-künstlerischen Ebenen von Zeit.

Die Worte verlieren ihre Form. Die wogenden Resonanzen verstärken sich selbst

Alvin Lucier weicht Gesprächen auf Metaebene gern aus und überlässt seinen Stücken den Kommentar. Er habe „no ideas but in things“, keine Ideen außer den Sachen selbst, so zitiert er gern den Dichter William Carlos Williams. Im Publikumsgespräch sagt Lucier zum Thema Zeit, etwas heiser: „Zeit ist etwas sehr Reales. Ich glaube nicht an psychologische Zeit in Musik. Klang hat eine messbare physikalische Geschwindigkeit. Deswegen ist das Benutzen von Klang sehr real, man kann hier nicht schummeln“.

Auch in seinem Komposi­tions­ansatz, der auf „Neutralität“ zielt, rückt Lucier seine Person in den Hintergrund. Es gehe ihm um „natürliche Reaktionen“, der Klänge, Räume und Menschen, die völlig unmittelbar miteinander interagieren. „Ich entscheide nie auf der Basis von Kriterien wie ‚Das ist schöner‘ “, sagt er und fügt hinzu, dass er nie kalkuliert Sounds nutzen würde, um ein bestimmtes Gefühl auszulösen. Das wäre cheating, also schummeln, findet er.

Nichtbeeinflussung und Absichtlosigkeit spielen in Luciers Werk eine große Rolle. Es inte­ressiert ihn nicht, sich auszudrücken; er sucht nach dem Ausdruck des Klangs selbst: „Man sollte nicht eingreifen. Man überlässt den Klang für eine Weile sich selbst, und etwas Wunderbares wird passieren. Es ist, als würde man in einem Wald auf ein Tier warten. Man muss ruhig verharren, sonst taucht es nie auf.“

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