Seele suchen

Literatur Paul Auster las in Berlin aus seinem neuen Roman „4 3 2 1“ und alle waren sich einig

Was ist die Kehrseite der Maxime, sich immer wieder neu erfinden zu müssen?

Irgendwann einmal, Ferguson ist zwölf Jahre alt, bemerkt er dieses Mädchen auf einer Flasche der Seltersmarke, die seine Eltern immer kaufen. Er sieht ihren halbnackten Körper, aber er wundert sich auch, dass ihr Flügel aus dem Rücken wachsen. Das Mädchen soll Psyche darstellen, klärt ihn kurz darauf seine Tante auf. „Das Wort Psyche hat im Griechischen zwei Bedeutungen“, sagt sie. „Es heißt Schmetterling und Seele.“

Ferguson, der Held in Paul Austers bislang schönstem Roman, „4 3 2 1“, wird in dieser Szene auf den Kern der Geschichte gestoßen, die Auster von ihm erzählt. Denn Auster schreibt nicht einfach von einem Jungen, der im Newark der Fünfziger aufwächst – in jedem der sieben Kapitel des 1.259-Seiten-Schmökers werden hintereinander vier verschiedene Versionen von Lebensabschnitten des jungen Archie Ferguson ausgebreitet. Sie verlaufen unterschiedlich, weil sich zufällig andere Dinge ereignen: Mal verarmt seine Familie, mal wird sie steinreich, mal stirbt der Vater früh.

In jeder Version entwickelt Ferguson andere Vorlieben, Marotten, hat andere Geliebte, andere Jobs. Gleichzeitig bleibt er auch auf schwer zu beschreibende Weise immer derselbe, der Spross einer osteuropäischen jüdischen Familie, der sich – und da ist er durchaus nah an Auster – immer für Literatur, Musik und Sport interessiert.

Am Montagabend trug Paul Auster diese Geschichte im Berliner Sendesaal des RBB vor; und im Laufe des Abends bringt er das Rätsel seines Romans auf den Punkt: „They are all sort of the same and yet at the same time different“, sagt der heute Siebzigjährige, der immer noch spitzbübisch wirkt. Die Menschen im Publikum, viele von ihnen halten sein Buch auf den Knien wie einen Schrein, applaudieren mit wissender Miene.

Sie sind sich einig: Der Mann mit den komplizierten Gedanken und der einfachen Sprache verkauft in Europa nicht ohne Grund mehr Bücher als zu Hause in den USA. Es liegt an dem Thema, das sich schon immer durch seine Bücher zieht und das er jetzt zum Zentrum erklärt hat.

Paul Auster arbeitet sich an einem großen Versprechen ab. Es wurde in der Zeit geboren, in der die amerikanische Bürgerrechtsbewegung in Schwung kam, in der auch „4 3 2 1“ spielt: Niemand ist so determiniert, wie er glaubt. Jeder kann sein, was er will – Sprache und Sozialisation ist mehr als genetisches Material. Was aber ist die Kehrseite der Maxime, sich immer wieder neu erfinden zu müssen? Was, wenn es ihn doch gibt, diesen Rest, der sich jedem Zugriff entzieht?

Was ist diese Psyche? Was ist die Seele, von der Tante Mildred sagt, sie sei „das schönste Lebewesen der Welt“, sie mache „schwere Prüfungen und Schicksalsschläge durch“ und steige schließlich „wie ein prachtvoller Schmetterling in die Luft“?

Um dies klarzustellen: Paul Auster spielt mit diesem Schmetterling nur, er weiß nicht, ob es ihn gibt – und er ist nach wie vor weit davon entfernt, so metaphysisch werden zu wollen wie einige seiner Kollegen, wenn sie älter werden. Dennoch macht er ihn zum Motor seiner Geschichte, die konstruiert und vielleicht sogar einen Tick zu lang sein mag, die aber jeden Leser, der ein Herz hat, auf diese Art mitzieht. Selten hat ein Autor die Suche nach Bereichen, die nur gespürt werden können, die sich jeder sprachlichen Festlegung entziehen, so mitreißend beschrieben.

Am Ende sagt Auster dann noch etwas Berührendes – denn selbst an einem Abend wie diesem, wo sich guten Gewissens alle einig sein dürfen, muss das Weltgeschehen doch mindestens einmal kurz erwähnt werden. Er habe den Roman begonnen, als Obama noch im Amt war. Als er ihn zu Ende schrieb, war er von einer Wirklichkeit eingeholt worden. Es sieht so aus, als wollten große Teile der amerikanischen Gesellschaft das Versprechen, von dem Paul Auster erzählt, heute wieder zurücknehmen. Susanne Messmer

Paul Auster: „4 3 2 1“. Rowohlt Verlag, Hamburg 2016, 1.259 S., 29,95 Euro