Bärenschicksale Die Mutter des berühmten Berliner Eisbären Knut trat im Staatszirkus der DDR auf. Sie gehörte zur Show der Dompteurin Ursula Böttcher, die mit der Abwicklung des Zirkus entlassen wurde
: Der Kuss des Raubtiers

Todeskuss: 1978 ehrte die DDR Ursula Böttcher mit einer Briefmarke Foto: Nightflyer (talk)/wikimedia

von Helmut Höge

Der Eisbär gehört zur Familie der Bären. Dieses größte Landraubtier bewohnt die nördlichen Polarregionen“, heißt es auf Wikipedia. Wegen der Klimaerwärmung soll es den Polarbären dort immer schlechter gehen. Nicht weil die Wärme ihnen zusetzt, sondern weil ihre Jagd auf Robben an Eislöchern durch den Rückgang an Packeis dadurch erschwert wird. „Bei Gelegenheit erbeuten sie nun auch lebende Delfine, wie Forscher erstmals beobachtet haben“, berichtete spektrum.de, und gelegentlich fressen sie sich laut Spiegel sogar gegenseitig.

Daneben stoßen sie auch in bewohnte Gegenden vor. Auf einer WWF-Internetseite heißt es: „Bei den Siedlungen treffen die Eisbären auf Menschen, die mit dem Problem heillos überfordert sind. Gelingt es uns nicht, diese fatale Entwicklung zu stoppen, werden auch die letzten Eisbären bald Geschichte sein.“ Dann gibt es sie vielleicht nur noch in den Zoos, wo man versucht, sie nachzuzüchten.

Wie schon mehrmals in der Zoogeschichte, lag der private Tierpark Hagenbeck in Hamburg mal wieder vorn: „Der Höhepunkt im Tierpark-Jahr 2012 war zweifelsohne die Eröffnung des neuen Eismeeres,“ heißt es auf der Internetseite der Stiftung Hagenbeck. Während die zwei Berliner Zoos sich – seit Jahrzehnten schon – nur ein dumpfes Kopf-an-Kopf-Rennen mit einem Eisbärbaby im Osten und einem im Westen (ohne „neue Eismeere“) liefern.

Von der Putzfrau zurRaubtierdresseurin

Eigentlich stammen beide Tiere aus dem Osten. Tosca, die Mutter des berühmten Eisbärjungen Knut, der dem Westberliner Zoo Millionen einbrachte, gehörte der Eisbärendompteuse Ursula Böttcher. Sie hatte sich beim Staatszirkus der DDR von der Putzfrau zur Raubtierdresseurin hochgearbeitet, zunächst arbeitete sie mit Löwen – bis der Generaldirektor sie vor die Wahl stellte: „Entweder übernehmen Sie die alten Bären – oder Sie kriegen eine Hundenummer!“

Zu den alten Eisbären bekam Ursula Böttcher noch etliche junge dazu, am Ende arbeitete sie mit zwölf Tieren – und wurde damit weltberühmt. Ihre Autobiografie diktierte sie dem Germanisten Siegfried Blütchen, das Buch „Kleine Frau, bärenstark“ erschien 1999; im selben Jahr wurden mit dem liquidierten Staatszirkus auch ihre Eisbären von der Berliner Treuhandanstalt verkauft und Ursula Böttcher wurde arbeitslos.

Eigentlich wollte der Circus Busch-Roland mit ihrer Bärennummer auf Tournee gehen, auch Zirkus Krone hätte sie gern für fünf Jahre unter Vertrag genommen und ihre volkseigenen Bären dazu erworben, aber der Treuhand-Zirkusliquidator ließ sich darauf nicht ein, sondern verkaufte die Tiere an Zoos, zwei übernahm der Westberliner Zoo. Ursula Böttcher wurde „aus betriebsbedingten Gründen“ gekündigt: „Nach 47 Jahren Zirkus und einer Weltkarriere mit eineinhalb Zeilen.“

Laut Berliner Zeitung kombinierte der Pressesprecher des Circus Busch-Roland, der 1999 vergeblich gegen den Bärenverkauf geklagt hatte: „Des Liquidators engste Liquidierungsberaterin heißt Ursula Klös. Schwiegertochter des früheren Berliner Zoodirektors und heutigen Aufsichtsratsvorsitzenden von Zoo und Tierpark, Heinz-Georg Klös. Ihr Mann wiederum arbeitet in leitender Stellung im Zoo.“ Der Eisbärenkurator Heiner Klös ist der Sohn von Heinz-Georg Klös.

Die Eisbärin Tosca wurde zunächst an den Zoo Nürnberg verkauft, wahrscheinlich nur zum Schein, denn danach kam auch sie in den Westberliner Zoo, wo sie 2006 ein männliches Junges bekam, das sie aber nicht annahm und das deswegen von seinem Pfleger aufgezogen wurde: Knut. Der kleine Bär wurde zusammen mit seinem Pfleger so berühmt, dass der kleine Westberliner Zoo mit ihm erstmalig mehr Besucher zählte als der vier Mal größere Ostberliner Tierpark.

Knut starb 2011 – vierjährig, sein Pfleger im Jahr darauf. Der Regierende Bürgermeister ließ verlauten: „Wir alle hatten den Eisbären ins Herz geschlossen.“ Auch der Präsident des Deutschen Tierschutzbundes, Wolfgang Apel, äußerte sich betroffen, zugleich übte er Kritik an der Haltung des Tieres: „Das kurze und qualvolle Leben von Knut zeigt erneut, dass Eisbären nicht in den Zoo gehören, auch wenn sie Knut heißen.“ Der Liquidator hatte zuvor gerade den Verkauf der Zirkus-Eisbären an Zoos mit der Notwendigkeit einer „artgerechten Haltung“ gerechtfertigt.

Die Viren des Pflegers

Nach seinem Tod wurde Knut drei Jahre lang von einer ganzen Horde von Experten au­topsiert: Dazu gehörten neben dem Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung das Friedrich-Löffler-Institut auf der Insel Riems, das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, die Freie Universität Berlin und die University of California in San Francisco. Es war laut diesen Experten die umfangreichste Pathologie eines Tieres, die je durchgeführt wurde. Der Bär ertrank wegen einer Gehirnentzündung. Die diesbezüglichen Viren hatte wahrscheinlich sein Pfleger, der täglich in engem Kontakt mit ihm gewesen war, übertragen. Der Pfleger selbst, Thomas Dörflein, starb ein Jahr später, mit 45. Die Diagnose bzw. Autopsie ergab: Blasenkrebs, Herzinfarkt und Thrombose. Wahrscheinlich hatte ihn sein Eisbär umgekehrt mit diversen Viren, Bakterien und Pilzen infiziert, hinzu kam eine Depression wegen seines so plötzlich gestorbenen Lieblings, dessentwegen er einen Verdienstorden bekommen hatte. Zudem hatte man ihn und Knut auf eine Berliner Münze verewigt und eine Zeitung sowie ein Radiosender hatten ihn zum „beliebtesten Berliner“ ernannt.

Knuts Leiche kam in das Naturkundemuseum und wurde dort vom Chefpräparator Detlef Matzke ausgestopft: „Knut wird unsterblich“, titelte der Tagesspiegel. Die japanische Dichterin Yoko Tawada veröffentlichte seine Biografie „Memoirs of a Polar Bear“ („Etüden im Schnee“): Beginnend mit der Großmutter, die aus der Sowjet­union stammte und nach Kanada emigrierte, wo ihre Tochter Tosca geboren wurde, die dann in die DDR ging, wo sie zunächst im Zirkus arbeitete und dann in Westberlin einen Sohn namens Knut bekam.

Knut als Botschafter

Der jetzige Direktor des Westberliner Zoos, Andreas Knieriem, der zugleich Direktor des Ostberliner Tierparks ist (wobei man jedoch den Verdacht haben könnte, das er dessen verdeckter Liquidator ist), teilte 2016 der Presse mit: Der präparierte „Knut wird Artenschutz-Botschafter“. Zur gleichen Zeit, da diese tierverlächerlichende Idee im Westberliner Zoo geboren wurde und die städtischen Gaswerke mit einem Eisbären warben, gebar im Ostberliner Tierpark eine Eisbärin zwei Junge, von denen eines überlebte; es wurde Fritz genannt. Ihn nahm seine Mutter an. Fritz wird deswegen nicht so zahm wie Knut sein. Die Zeit fragte: „Könnte dieses Eisbärenbaby der neue Knut werden?“ Andere Berliner Zeitungen meinten: Das Eisbärenbaby Fritz sei eine Chance für den Tierpark, wenn nicht die letzte.

Auftritt mit zwölf Eisbären

Auf Wikipedia heißt es über die 2010 gestorbene Eisbärendompteuse Ursula Böttcher: „Sie war nur 1,58 Meter groß und die erste und einzige Frau weltweit, die in einer Manege Dressuren mit Eisbären zeigte (die z. T. mehr als doppelt so groß waren).“ Sie trat dabei mit bis zu zwölf Tieren gleichzeitig auf. Berühmt wurde sie für den sogenannten „Todeskuss“ (der auf einer DDR-Briefmarke abgebildet wurde). Er bestand darin, dass sie einen Eisbären von Mund zu Mund mit einem Stück Fleisch fütterte. In den USA wurde sie als „Princess of Bears“ gefeiert. Sie wurde mit mehreren Zirkus-Preisen ausgezeichnet und bekam den Nationalpreis der DDR.

In der „Ruhmeshalle“ des internationalen Artistenmuseums Klosterfelde sind einige Requisiten und Fotos von ihr ausgestellt – dazu ihr ausgestopfter „legendärer Eisbär ‚Nordpol‘“. Als sie einmal beim Tanz mit der Eisbärin Nixe von dieser zu Boden geworfen und in die Schulter gebissen wurde, rettete ihr Assistent ihr das Leben, aber sie machte sofort weiter und ging erst nach der Vorstellung ins Krankenhaus: „Man darf so etwas nicht durchgehen lassen. Wenn das Tier merkt, dass es seinen Willen behaupten kann, ist es für diese Arbeit verloren.“ Ein Dompteur muss über dem Alphatier stehen. Das „Superalphatier“ in einer Eisbärengruppe zu sein, ist besonders schwierig, weil Bären in optischer und akustischer Hinsicht extrem ausdrucksarm für uns sind. Dennoch und trotz aller Angriffe und Fehlinterpretationen darf beim Dompteur keine Angst aufkommen. Darin besteht laut dem Zürcher Zoodirektor Heini Hediger „das wesentliche ‚Geheimnis‘ von Ursula Böttcher im Umgang mit den sie hoch überragenden arktischen Riesen“.

Inzwischen befragt man nicht nur Zoos und Zirkusse im Hinblick auf ihre artgerechte Haltung der Tiere. Die Frankfurter Rundschau fragte den für seine Tierdokumentationen geadelten Regisseur David Attenborough, ob seine „Arbeitsmethoden“ denen seines Bruders, des Spielfilmregisseurs Richard, ähneln würden. Attenborough antwortete: „Wir sind vollkommen verschieden. Er erfindet Geschichten, während ich Geschichten filme“ – oder filmen lasse: Nachdem er in einem Interview zugegeben hatte, die im Zoo gefilmte Geburt eines Eisbären in eine Sendung eingebaut zu haben, die diese Tiere in der arktischen Wildnis zeigte, war es zu einem „Attenborough-Skandal“ gekommen.

Der des Betrugs Bezichtigte verteidigte jedoch nicht nur seine Täuschung, sondern gab gleich noch weitere zu. Die Tierfilmproduzenten sprangen ihm bei: Seine „Eisbären-Methode“ entspreche den „Redaktionsanforderungen“, sie sei „Standard“ bei der Produktion von „Natural-History-Programmen“. Wahrscheinlich haben wir es bald nur noch mit Fake-Eisbären zu tun.