Die Wahrheit: Der Sieg des Untergrundwutbürgers

Die Berliner U-Bahn ist ein Tummelplatz für Extremindividualisten, die vom Hauptstädter eisern ignoriert werden. Ist das immer richtig?

Berlin ist die Stadt der Exzentriker und der Verrückten. Man begegnet ihnen allerorten. Die Grenze zwischen exzessiver Selbstverwirklichung und geistiger Wirrnis ist dabei nicht in jedem Falle klar ersichtlich. Aber den Einheimischen ist eine solche Unterscheidung auch gar nicht sonderlich wichtig, sie begegnen den bunten Vögeln und Vollmeisen im öffentlichen Raum einfach mit routiniertem Desinteresse. Ein Mann, der im Winter nur mit einem weißen Bademantel bekleidet die S-Bahn betritt, um aus voller Kehle das Lied Ein Bett im Kornfeld zu singen, bringt den echten Berliner allenfalls dazu, einmal kurz von seinem Mobiltelefon aufzublicken.

Touristen erkennt man hingegen daran, dass sich bei ihnen eine solche Gewöhnung noch nicht eingestellt hat. Sie filmen aus sicherer Entfernung begeistert noch den harmlosesten Spinner, um daheim in Biberach der staunenden Verwandtschaft Beweismaterial dafür vorlegen zu können, wie wahnsinnig es in der Metropole zugehe. Der Berliner wird aus seiner stoischen Haltung hingegen nur dann aufgerüttelt, wenn einer der Extremindividualisten anfängt, bedrohlich zu wirken.

Jüngst stieg ich am Alexan­der­platz in eine U-Bahn, die auf die baldige Abfahrt ins schöne Hönow wartete. Der Waggon war schon dicht besetzt, doch noch immer drängten weitere Fahrgäste ins Innere. Die Bahn hatte sich noch nicht in Bewegung gesetzt, da ertönte plötzlich ein fürchterliches Gebrüll. Ich blickte erschrocken umher. Am anderen Ende des Wagens stand ein deutscher Mann, unauffällig gekleidet, mit einer Mütze auf dem Kopf und einem Rucksack auf dem Rücken. Er hätte ganz gewöhnlich ausgesehen, wäre da nicht sein Gesicht gewesen. Dessen Züge waren seltsam verzerrt, der Blick aus seinen blauen Augen starr und hasserfüllt. Er war eine Weile still, dann machte er wieder den Mund auf: „Dreckfotzendreck! – Raus! Raus!“

Die Menschen in der näheren Umgebung des Mannes entfernten sich unauffällig, ihnen war inzwischen wohl etwas unbehaglich zumute. Der Schreihals durchstreifte nun den Wagen von einem Ende zum anderen, immer wieder Flüche ausstoßend, die stets mit den Worten „Raus! Raus!“ endeten. Und tatsächlich: Es leerte sich nun der ganze Wagen.

Unterdessen stand das Großmaul plötzlich mir direkt gegenüber und glotzte mich an. Kurz überlegte ich, dem wilden Mann zu sagen, er solle gefälligst den Kopf zumachen. Aber dann ließ ich es doch bleiben. Was hatte es für einen Sinn, sich mit einem Irren anzulegen? Ich stieg also auch aus und quetschte mich in den inzwischen heillos überfüllten nächsten Wagen. Der Irre hatte nun tatsächlich einen ganzen Waggon fast für sich allein.

Als ich nach wenigen Stationen wieder aus der U-Bahn ausstieg, schaute ich noch einmal in den Wagen des Grauens. Aber der wilde Mann war schon vor mir ausgestiegen. Immerhin hatte ich eines gelernt: Die Wutbürger unserer Tage können das Maul nur weit aufreißen, wenn der Rest der Menschen aus Angst den Mund hält.

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kari

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