Ein guter Ort für Leidenschaft: Carla Molina hat ihn für sich mit ihrem Il Kino in Neukölln eingerichtet Foto: David Oliveira

Lichte Momente

Kino Zur Berlinale gehen? Eigentlich feiert man in Berlin doch das ganze Jahr über Filmfestspiele. Gerade den kleinen Kinos mit ihrem ambitionierten Programm geht es überraschend gut. Ein langer Tag im Lichtspielhaus – vom ältesten bis zum jüngsten Kino in der Stadt

Von Susanne Messmer

An diesem eisgrauen Montagnachmittag wirkt das Foyer des Kinos Moviemento wie ein warmes Nest. Der Blick schweift über mehrfach überklebte Filmplakate, die sich schon wellen, über die Maschinen für süßes und salziges Popcorn, ein Schild, das behauptet „Lecker Wein“.

Tom Tykwer hat hier mal die Karten abgerissen.

Das Moviemento ist das älteste Kino der Stadt. 1907 wurde es eröffnet. Vor 110 Jahren.

Heute hat es drei Säle, 233 Sitzplätze. Es ist erst 14.30 Uhr, trotzdem sind Leute da. Eine Frau um die fünfzig mit einer alten Berlinale-Tasche bestellt einen Kakao. In Saal 3 plaudern zwei Freundinnen um die vierzig, ein Paar um die sechzig kommt an, sie balanciert behutsam heißen Tee an ihren Platz.

Der Plan für heute: ein Selbstversuch. Vier gute Filme in vier schönen Kinos, Programm- oder Filmkunstkinos. In diesen Kinos also, wie sie gegen Ende der 1920er Jahre an der Ostküste der USA entstanden, für ein Publikum, das sich nach Filmen jenseits der großen Studioproduktionen sehnte. Mit dem Start der Filmfestspiele in dieser Woche mag man fragen: Braucht der Berliner die Berlinale überhaupt? Und wie geht es den kleinen Kinos? Kann man dort nicht sowieso an 365 Tagen im Jahr in der Stadt Filmvielfalt genießen, Schönes, Experimentelles oder auch Abseitiges in netten Kinos sehen?

Eine der Freundinnen im Moviemento, die in der Zeitung Maria heißen will, erzählt. Sie ist Lehrerin, hat heute ihren freien Tag. Ein- bis zweimal die Wochen gehe sie ins Kino, sagt sie, meist ins Moviemento, manchmal auch in eins der vielen anderen im Kiez. Was mag sie am Kino? Den guten Film, natürlich. Das Gefühl, unter Leuten zu sein, auch wenn sie fremd sind. Vor allem aber: „Man muss das Handy ausschalten.“ Maria hat also an diesem Montag den richtigen Film gewählt.

Mit dem ersten Festival­wochenende legt man gerade bei der Berlinale und dem Tanz um den Goldenen Bären doch entschieden an Be­triebs­temperatur zu. Bis zum 19. Februar dauert noch die 67. Ausgabe der Internationalen Filmfestspiele Berlin, am Samstag, 18. September, ist die Preisverleihung der Bären, am Sonntag ist zum Abschluss der traditionelle Publikumstag. Alles Wesentliche zum Festival liest man über die Tage auf vielen Seiten in der taz und auf berlinale.de.

Parallel zur Berlinale locken noch weitere Festivals an die Leinwände: Im Babylon Mitte am Rosa-Luxemburg-Platz präsentiert das Berlin Independent Film Festival bis 15. Februar eine internationale Auswahl aus der Low-Budget-Produktion (berlinfest.com). Vom 13. bis 16. Februar geht, gleichfalls im Babylon, zum fünften Mal die Genrenale an den Start, das erste und einzige Filmfestival, das exklusiv dem deutschen Genrefilm gewidmet ist (genrenale.de).

Sich durch die bunte Welt der No- und Low-Budget-Filme gucken kann man noch bis 19. Februar bei der Boddinale im Neuköllner Loophole in der Boddinstraße. Richtiger Underground also, aber auch – wie die Berli­nale – mit einem Wettbewerb. Und der Eintritt ist hier frei (­boddinale.com).

Gleich beginnt Jim Jarmuschs „Paterson“ – ein Film über einen Gedichte schreibenden Busfahrer, der bereits Anfang November ins Kino kam. „Paterson“ ist eine Liebeserklärung an Menschen, die sagen, auch ohne Handy und Fernseher glücklich zu sein, die jeden Abend noch einmal in die Bar gehen, um in Gesellschaft zu sein. „Paterson“ ist seinen Fans geradezu auf den Leib geschrieben. Der Film spricht Leute an, die Net­flix benutzen und fernsehen, die aber trotzdem noch die Verabredung mit Unbekannten in einem dunklen Raum suchen. Sie wollen gemeinsam lachen, heulen und schweigen. Im Moviemento seit 110 Jahren.

Events als Angebot

„Es gibt inzwischen ganz gute Tiefkühlpizza, und trotzdem gehe ich noch zum Italiener“, bringt es drei Stunden später Andrea Stosiek in der Bar des Kinos Sputnik auf den Punkt, wenige Fahrradminuten entfernt vom Moviemento. Gleich ist „Erzähl es niemandem!“ zu sehen, ein konzentrierter Dokumentarfilm über die Norwegerin Lillian Ber­thung, die sich während des Zweitens Weltkriegs in einen deutschen Besatzer verliebte.

Zu dritt sitzt man im Kino, auch ein Paar über sechzig, direkt aus der Nachbarschaft. Der typische Programmkinobesucher, wie sie Stosiek vom Sputnik beschreibt, die Dame um die vierzig, meist Akademikerin, meist mit gutem Gehalt, bleibt an diesem frühen Abend aus. Andrea Stosiek freut sich trotzdem. Das Kino im fünften Stock der Höfe am Südstern mit den zwei Sälen und den 97 Plätzen brummt derzeit. 31.000 Besucher 2016: „Das ist gut für uns“, sagt sie. Davon kann sie selbst leben, ein Mitarbeiter in Vollzeit, vier in Teilzeit.

Stosiek kann viele erfolgreiche „Brotfilme“, wie sie sagt, aber erst Wochen nach dem Kinostart zeigen, wegen der Konkurrenz, die größer und daher besser vernetzt ist. Dafür veranstaltet sie Sommerkino, das British Shorts Filmfestival, Filmgespräche, ein Open Screening für unbekannte Regisseure und jeden Sonntag seit seiner Premiere 2012 den Musikfilm „Sugar Man“. Die Events sind das eine, sagt Stosiek. Das andere ist: „Man muss sein Publikum kennen.“

„Events werden als Überlebensstrategie oft überbetont“, spitzt es auch Christian Berg von der Filmförderanstalt Medienboard Berlin-Brandenburg zu. Sein Unternehmen hat noch vor wenigen Jahren viele kleinen Kinos in Berlin vor der Pleite bewahrt, indem es ihnen finan­ziell bei der Umstellung auf die digitale Vorführtechnik half. Und umstellen mussten die Kinos: Eine analoge Filmkopie kostete den Verleiher mehr als 15.000 Euro, eine digitale kostet nur noch 100. So kommen die Filme mit mehr Kopien in den Umlauf. Die kleinen Kinos kommen prinzipiell auch schneller an die großen Filme heran.

Die Faustformel für den Erfolg:

Die Events sind das eine, sagt Andrea Stosiek vom Kino Sputnik. Das andere ist: „Man muss sein Publikum kennen“

Nun freut sich Berg, dass derzeit kaum Kinos schließen in Berlin, dass nach wie vor neue aufmachen. Und dass sich immer wieder welche neu erfinden – so wie letztes Jahr das Eiszeit in Kreuzberg.

Das Erfolgsrezept sind nicht die Events, sondern es ist die Verankerung im Kiez, sagt Berg. „Man muss intelligente Nischen besetzen.“

Die Zukunft gehört dem kleinen Kino mit dem Betreiber als Intendant und Ansprechpartner, der oft anwesend ist. Das sagen auch die Zahlen: Laut einer Erhebung der Filmförderungsanstalt glänzt Berlin mit der höchsten Programmkinodichte bundesweit, Tendenz steigend. Während 2009 noch 67.503 Einwohner auf einen Programmkinosaal kamen, waren es 2015 nur noch 33.510, statt über 50 gibt es heute über 100 Programmkinos. Und das trotz des viel beklagten Sterbens der alten Kinos am Kurfürstendamm. Aber das ist die Kehrseite zur Erfolgsstory der Kleinen. Denn die riesigen Paläste mit oft nur einem großen Saal waren zu unbeweglich, um sich von den Multiplexen unterscheiden zu können. Nur noch die Astor Filmlounge, der Zoopalast und das Cinema Paris sind von den 22 Kinos übrig, die es mal am Ku’damm gab.

Das Kino als Kurator

Der Dokumentarfilm über die mutige Norwegerin ist vorbei. Jetzt ist es nicht mehr nur kalt, sondern auch noch dunkel draußen. Der Selbstversuch geht weiter.

Das nahe gelegene Yorck ist ein kuschliges Kino. Hier an der Yorckstraße trat die Berliner Yorck-Gruppe ihren Siegeszug an. Heute gehören der Gruppe 12 Kinos in der Stadt, seit 2008 wachsen die Besucherzahlen stetig, so Geschäftsführer Christian Bräuer. Und das, obwohl 2016 deutschlandweit kein besonderes Kinojahr war – 13 Prozent weniger Besucher als im Rekordjahr 2015. Insgesamt lösten 121,1 Millionen Besucher eine Kinokarte an der Kasse, 18,1 Mil­lio­nen weniger als 2015. Doch die Programmkinos waren nicht davon betroffen, sondern nur die Multiplexe, so Thomas Schulz von der Filmförderungsanstalt FFA.

Internationales Kino ist in Berlin schon deswegen eine tägliche Übung, weil es in der Stadt doch einigermaßen polyglott zugeht. Wer etwa türkische Filme sehen will (die nicht unbedingt Arthouse-Kino sind), findet die (mit deutschen Untertiteln für die Nichtmuttersprachler) in den Programmen vom Cineplex Neukölln und dem Cineplex Alhambra in Wedding.

Vor allem für Filme aus Russland und Osteuropa macht sich das Krokodil in der Greifenhagener ­Straße in Prenz­lauer Berg stark, auch wenn man dort heute, am Samstag um 21 Uhr auch „Toni Erdmann“ sehen darf – aber Maren Ades Oscar-nominierter Film spielt ja in weiten Teilen in Bukarest, also in Osteuropa.

AufItalienisch Filme schauen(auch hier mit Untertiteln) kann man jeden Sonntag um 16 Uhr beim CinemAperitivo im Babylon Mitte am Rosa-Luxemburg-Platz, diesen Sonntag wird im Rahmen einer Rossellini-Homage „Paisà“ gezeigt.

Das indische Kino auch abseits von Bollywood wird gleichfalls im Babylon von IndoGerman Film gepflegt, dieses Wochenende läuft auf Hindi (mit Untertiteln) die Satire „Jolly LLB 2“.

Nach Geografie sortierte Filme findet man immer wieder in Reihen im Arsenal, im Zeughauskino des Deutschen Historischen Museums und im Babylon Mitte: Dort sind derzeit mit „Dok DDR“ Filme aus einem untergegangenen Land zu sehen. Bis 9. März läuft die Reihe mit DDR-Dokumentarfilmen, der Eintritt ist frei. (tm)

Was also ist die Strategie der Yorck-Gruppe? Zum einen ist sie einfach groß, hat viel mehr Standing gegenüber den Verleihern als die ganz Kleinen und bekommt wichtige Filme früher. Zum anderen macht sie zahllose Events, die Abende mit den Überraschungsfilmen, also Sneak Previews, oder die wöchentliche schwule Filmnacht Mongay. Teil der Strategie ist es aber auch, die Fülle zu sortieren. Denn aufgrund der Digitalisierung, die alles einfacher macht, kommen immer mehr Filme ins Kino, 2016 waren es 610, also fast 100 mehr als 2009. Daher, so Bräuer, wird es immer wichtiger, „die Filme zu kuratieren“.

Und daher, so fügt er an, ist auch die Berlinale so wichtig in Berlin. Tolle Programm­kinos hin, riesige Filmauswahl her. Die Berlinale wirkt wie ein Schaufenster. So mancher Film, der ein wenig schwierig ist, schafft es im Berliner Kino­betrieb nur, weil er schon einmal auf der Berlinale lief. Weil ihn die Berlinalefreaks verpasst haben oder weil sich der Film herumgesprochen hat.

Aber wie kann die Yorck-Gruppe so erfolgreich sein, wenn die Anbindung an die Nachbarschaft so wichtig ist? Verliert man mit 12 Kinos nicht den Überblick über die Kieze?

Am Montagabend läuft im Yorck ein Film, der ebenso in einem Multiplex laufen könnte, „Kundschafter des Friedens“. Eine nette Klamotte über Rentner mit DDR-Geheimdienst-Vergangenheit inklusive grauhaariger Starbesetzung (Henry Hübchen, Winfried Glatzeder, Michael Gwisdek). Tatsächlich sind etwa 30 Zuschauer gekommen, die meisten haben dieselbe Haarfarbe wie Hübchen, Glatzeder und Gwisdek.

„Unsere Klientel ist älter geworden“, sagt Einlasser Ronny Gräber und dann, mit einer Art liebevollem Amüsement in der Stimme: „Die Wahrscheinlichkeit, hier in so einem Film zu landen, ist deshalb ziemlich hoch.“ Gräber sagt, er kenne einen großen Prozentsatz derer, die hier ins Kino gehen. Er ist hier der Mann, der die Anbindung an den Kiez garantiert, ans oft arrivierte Publikum des Yorck, Zuschauer wie Zahnarzt Winfried, der schon immer hier um die Ecke wohnt, oder Juristin Petra, die sich seit der Rente zum zweiten Mal das Jahresabo der Yorck-Gruppe zum Geburtstag geschenkt hat. Dass sich das Programm des Yorck kaum von dem eines Multiplex-Kinos unterscheidet, ist diesen Zuschauern egal. Sie würden trotzdem nie in ein Multiplex gehen.

Die Nähe zum Publikum

15 Fahrradminuten weiter ist es wieder die Kinobetreiberin selbst, Carla Molino, die die Nachbarschaft pflegt. Seit drei Jahren betreibt sie mit Lebenspartner Daniel Wuschansky und Kristian S. Pålshagen aus Norwegen das Il Kino in der Neuköllner Nansenstraße: die letzte Station des Selbstversuchs, das jüngste Kino Berlins. Molino, eine Frau mit Augen wie Giulietta Masina, kommt aus Rom, dort ging sie ins Kino, seit sie drei war. Selbst, als sie als Richterin arbeitete, schaute sie sich manchmal sonntags drei Filme hintereinander im Kino an.

2010 baute Molino einen Filmclub auf, dann kam sie nach Berlin und fand bald die Räume, in denen sich Il Kino befindet – wie schon in Rom inklusive Café.

Ein Saal, 52 Plätze. 1.000 Zuschauer im Monat, sagt Molino – genug, um zu überleben. Wochentags werden vier Filme gezeigt, am Wochenende sieben. Alle in Originalversion oder mit englischen oder deutschen Untertiteln.

Zielgruppengerechter geht es nicht in Kreuzkölln. Denn hier wohnen wahrscheinlich die meisten Kinoverrückten in Berlin, die höchstens gebrochen Deutsch sprechen. Tatsächlich sitzen am Nachbartisch drei Amerikanerinnen, die sich über ihren Arbeitstag unterhalten. Einen Tisch weiter spricht ein Paar italienisch miteinander.

Das Il Kino ist ein Kino für Expats. Ein Ort, wo man sich bei einem guten Glas Rotwein oder mit Panini in Filmstimmung bringt – oder aus dem Saal kommt und nicht lange über­legen muss, wo man ein bisschen hängen bleiben und das gerade Gesehene noch einmal durchsprechen kann. Immer, so Molino, ist einer der drei Betreiber hinterm Tresen, wischt die Tische, reißt die Karten ab – oder sie sitzen selbst im Kinosaal und diskutieren mit den Zuschauern nach dem Film.

Auch, wenn Carla Molino tagsüber vor allem mit Buchhaltung, Einkauf und Marketing beschäftigt ist. Auch, wenn sie die Filme, die sie für ihr Kino ansehen muss, oft nur noch spätabends auf dem Computer ansehen kann: Die Cineastin aus Rom hat eine Nische gefunden.

Sie ist im Film ihres Lebens.

Aber nun ist es 22 Uhr vorbei, eine Fahrradklingel ertönt – das Zeichen für den Filmbeginn.

„Suburra“, ein italienischer Film, der abstrakte Gesellschaftsbeschreibungen derart konkret herunterbricht, dass einem schlecht werden kann: Männer wühlen anderen Männern so lang mit Messern in den Eingeweiden herum, bis das Gurgeln aufhört.

Kino, das einen nicht einfach kalt lässt. Es ist der letzte Film an diesem langen Kinotag.