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Wie aus Bauern Radikale wurden

WiderstandVor 40 Jahren haben sich Anwohner und Landwirte mit Traktoren der Polizei entgegengestellt und die Republik Freies Wendland ausgerufen. Damals wurde Gorleben als Atomstandort benannt. Obwohl gerade kein Castor rollt, geht der Protest weiter

Aus dem WENDLAND Reimar Paul

An vielen Häusern und Höfen hängen noch die Transparente mit Anti-Atom-Parolen und der lachenden Sonne. In den Dörfern, die Meuchefitz und Waddeweitz, Breselenz oder Salderatzen heißen, haben die Leute gelbe Latten zu einem X zusammengenagelt. Oft klebt das X an Fenstern, es schmückt Stalltore und baumelt innen an Autospiegeln. Es wirkt im Wendland wie ein Zeichen der Verschworenheit. Das X soll vermitteln: „Nix“ Castor, „Nix“ Atomkraft, „Wi wullt den Schiet nich hebben.“ Dabei sind Castortransporte schon seit fünf Jahren nicht mehr nach Gorleben gerollt.

Die Veteranen des Widerstandes gegen Atomanlagen treffen sich heute manchmal zum Klönschnack im Gasthaus Wiese. Die Protestbewegung sei in die Jahre gekommen, witzeln sie dann: „In die besten Jahre“. Hausherr Horst Wiese zum Beispiel, Landwirt, Gastwirt und Gorleben-Gegner der ersten Stunde, ist schon 81 Jahre alt. Im politischen Ruhestand ist er aber noch nicht. Allenfalls in Teilzeit.

Die Kneipe in Gedelitz, einem Nachbardorf von Gorleben, zählt seit Jahrzehnten zu den Hot Spots der Protest-Szene. Hier startete im März 1979 der legendäre Protestzug der Lüchow-Dannenberger Bauern mit rund 500 Treckern nach Hannover. Auf dem Hof und der Wiese mit den Obstbäumen kampieren bei Demos die auswärtigen Atomkraftgegner, drinnen im rustikalen Saal schmieden sie Pläne für die nächste Blockade. „Wenn wir Alten uns hin und wieder treffen, haben wir immer guten Gesprächsstoff“, sagt Wiese.

Der Landwirt zählte zu den ersten, die vor 40 Jahren mit ihren Traktoren gegen die Pläne protestierten, in Gorleben ein „Nukleares Entsorgungszentrum“ zu errichten – einen gigantischen Atomkomplex mit Wiederaufarbeitungsanlage, einem Endlager, mehreren Pufferlagern und einer Fabrik für Brennelemente. Bei der Benennung des Standortes am 22. Februar 1977 verwies Niedersachsens damaliger Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) auf den unterirdischen Gorlebener Salzstock, in dem sich der Atommüll für Jahrtausende trefflich verwahren ließe. Salzformationen gab es allerdings auch anderswo in Niedersachsen, aus fachlichen Gründen war Gorleben nur dritte Wahl.

Ausschlag gebend für Albrechts Entscheidung waren andere Gründe. Im strukturschwachen, konservativen Wendland mit satter CDU-Mehrheit, so sein Kalkül, würden die Leute schon nichts gegen die geplanten Atomfabriken haben, und gegen die versprochenen Arbeitsplätze erst recht nicht.

Zudem wollte der Regierungschef mit seiner Standortentscheidung die DDR ärgern, erinnerte sich der inzwischen verstorbene Geologie-Professor Gerd Lüttig im Jahr 2010 in einem Interview mit der taz: „Er wollte einen Standort in der Nähe der Zonengrenze haben, weil die Ostzonalen uns die Geschichte mit Morsleben eingebrockt hatten“.

Ein stillgelegtes Salzbergwerk bei Morsleben, das in Sachsen-Anhalt nah an der Landesgrenze zu Niedersachsen liegt, war seit 1971 das Atommüllendlager der DDR. Der Schacht sei technisch nicht in Ordnung gewesen und es habe Wasserzuflüsse gegeben, so Lüttig. „Wir befürchteten immer, dass Morsleben eines Tages absaufen würde und radioaktives Wasser in Richtung Helmstedt fließen könnte. Albrecht habe daraufhin erklärt, „dann machen wir das auch.“

Doch Albrechts Rechnung geht nicht auf. Viele Lüchow-Dannenberger lehnen die Atomanlagen von Beginn an strikt ab. Schon am Abend der Standortbenennung demonstrieren in Gorleben empörte Bürger. Drei Wochen später versammeln sich bereits 20.000 Menschen am geplanten Baugelände.

Die kurz zuvor gegründete Bürgerinitiative (BI) Umweltschutz Lüchow-Dannenberg verzeichnete großen Zulauf, erinnert sich Rebecca Harms „Mitglieder waren erst mal nicht die Zugereisten und die Freaks, die es im Wendland ja schon gab“, sagt die Europa-Abgeordnete der Grünen, die selbst im Kreis Lüchow-Dannenberg wohnt. „Sondern viele der Honoratioren aus Lüchow und aus Dannenberg, Geschäftsleute, Rechtsanwälte, Lehrer.“

Polizisten verfolgten Widerständler sogar auf dem Weg zum Kegelabend

Mit den auswärtigen Atomkraftgegnern aus den Städten, die zu jener Zeit die Bauzäune in Brokdorf und Grohnde berannten und sich dort heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei lieferten, hatte die BI zunächst nicht viel zu tun. „Wir waren Provinz und wir wollten in der Provinz Politik machen“, sagt ihr Mitbegründer Wolfgang Ehmke. „Man konnte die Leute nur da abholen, wo sie sind. Wären die Aktionsschritte zu schnell gewesen, hätte das politische Lernen nicht reifen und wachsen können.“

Im März 1979 brechen Landwirte aus dem Wendland zu ihrem Treck nach Hannover auf. Sie werden dort von mehr als 100.000 Demonstranten begeistert empfangen. Lüchow-Dannenberger und Auswärtige protestieren erstmals gemeinsam in großem Stil. Das beeindruckt auch die Politiker. Eine Wiederaufarbeitungsanlage in Gorleben sei politisch nicht durchsetzbar, telegrafiert Albrecht an Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD).

Die Erkundung des Salzstocks geht aber weiter, bei der Endlagersuche bleibt Gorleben als Standort im Pool. Auch zwei Zwischenlager und eine „Pilotkonditionierungsanlage“ zum Verpacken von Atommüll entstehen im Gorlebener Wald.

Im Mai 1980 besetzen Tausende Atomgegner ein Stück Land über dem Salzstock und rufen die „Republik Freies Wendland“ aus. Auf dem sandigen Waldboden errichten sie Hütten aus Baumstämmen, Stroh und Glas. Sie bauen auch ein Küchengebäude, ein großes Rundhaus für Versammlungen, Latrinen, einen Schweinestall, zwei Türme und ein Passhäuschen mit Schlagbaum, wo die „Wendenpässe“ ausgestellt werden und über dem die grün-gelbe Wendlandfahne flattert. Nach einem Monat räumt die Polizei im bis dahin größten Einsatz der bundesdeutschen Geschichte das Gelände. Viele Beamte haben ihre Gesichter geschwärzt, Bulldozer walzen die Hütten nieder. Als letzte zerren die Polizisten die Leute aus den Türmen heraus.

In der Folgezeit erlahmt im Bundesgebiet der Schwung der Anti-Atom-Bewegung. Bürgerinitiativen fallen auseinander, ihre Mitglieder engagieren sich in anderen gesellschaftlichen Konflikten oder ziehen sich zurück. Doch in Gorleben bleibt der Widerstand lebendig.

Als Tieflader 1984 die ersten Fässer mit schwach radioaktivem Atommüll ins Wendland karren, verbarrikadieren tausende Lüchow-Dannenberger mit Baumstämmen, Autos und ihren Körpern sämtliche Zufahrtsstraßen in den Landkreis. „Wenn du die Atomanlagen vor der Nase hast“, sagt Wolfgang Ehmke, „kannst du dir nicht aussuchen, ob du dich mal engagierst und mal nicht.“ Ständig stünden Entscheidungen an, die nach Reaktionen verlangten.

Neben der Bürgerinitiative sind weitere Protestgruppen entstanden: Die „Bäuerliche Notgemeinschaft“, die Gorleben-Frauen, die „Grauen Zellen“, in der sich die Senioren zusammenschließen, der Motorradclub Idas – schon in der griechischen Mythologie war Idas ein Widersacher von Castor. Auch viele Christen engagieren sich. Sie veranstalten Gottesdienste, Kreuzwege und jeden Sonntag am Endlager-Bergwerk das „Gorlebener Gebet“. Bei den Castor-Transporten mit Atommüll, die seit 1995 ins Zwischenlager rollen, vermitteln Pastoren bei den teils heftigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei.

Weil ihr Protest so hartnäckig ist, geraten viele Widerständler ins Visier von Polizei und Verfassungsschutz. Beamte verfolgen Bauern auf dem Weg zu Gesangs- und Kegelabenden, schneiden Telefongespräche mit und leuchten nachts die Fenster und Fassaden von Höfen und Kneipen aus. Mehr als 2.000 Einwohner aus dem Kreis Lüchow-Dannenberg sind zeitweise im „Spurendokumentationssystem“ des niedersächsischen Landeskriminalamtes gespeichert. „Auf einmal“, sagt Ehmke, „war man selber Radikaler und Verfassungsfeind.“

Begleitet von erbittertem Widerstand, rollen insgesamt 13 Transporte mit hochradioaktivem Atommüll ins Zwischenlager Gorleben. Um den Konflikt zu entschärfen, entscheiden die Politiker 2011, die Fuhren einzustellen. Seitdem ist Gorleben nicht mehr der Kristallisationspunkt der Anti-Atom-Bewegung. „Dem außerparlamentarischen Protest wurde die Bühne genommen“, räumt Ehmke ein.

Bis 2031 soll ein Endlagerstandort gefunden sein. Fällt die Wahl dann auf Gor1eben, stellt Gastwirt Wiese seinen Traktor wohl nicht mehr quer. Er setzt dann auf seine Kinder und Enkel. „Ich glaube, sie würden noch mehr machen als wir“, sagt er. „Bei meinem Sohn bin ich sicher.“

Die AKW-Gegner im Wendland wollen an die Benennung von Gorleben als Atomstandort mit einer Aktionswoche erinnern. Sie beginnt am 18. Februar mit einem Trecker-Konvoi zu den Atomanlagen. „Wir haben Geschichte geschrieben, Atom-Ausstiegsgeschichte“, sagt Ehmke. „Doch es ist weiter Aufklärung und Widerstand nötig.“

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