: Die neue Mauer in den Köpfen
Vor 15 Jahren wurde Deutschland und damit auch Berlin wiedervereinigt. Für die meisten Berliner ist das ein Stück gelebte Geschichte. Für die vielen später Zugezogenen jedoch nur eine Geschichte unter vielen. Zwei Ansichten aus Prenzlauer Berg
Als ich am 10. November 1989 das erste Mal über die Oberbaumbrücke nach Westberlin kam, habe ich mich sofort wohl gefühlt. Kreuzberg war Prenzlauer Berg in Color. Farbig nicht nur, weil bunte Werbetafeln die Dreckecken kaschierten, sondern auch wegen der Leute, die sich dort bewegten. Bordsteine, Häuser, Straßen aber erzählten eine gemeinsame Geschichte, die mich bis heute fasziniert. Ich war zwar, wie viele aus meiner Umgebung, gegen die überstürzte staatliche Vereinigung – der 3. Oktober hat für mich keine Bedeutung, er ist ein staatlich verordneter Feiertag wie früher der 7. Oktober –, aber die Wiedervereinigung der beiden Stadthälften empfinde ich bis heute als ein Glück. Plötzlich konnte man durch Mauern gehen.
Die wunderbarste Zeit
Die Zeit zwischen dem 7. Oktober 1989 und dem 3. Oktober 1990 war die wunderbarste in meinem bisherigen Leben, eine Mischung aus Freiheit und Neugier, während hinter unserem Rücken Strohmänner Nägel mit Köpfen machten. Die Stadt kam aus dem Stillstand in eine Bewegung, die alles vermischte und Leute aus fremden Gegenden magisch anzog. Niemand hatte Geld, aber alle hatten Ideen. Am 3. Oktober 1990 war die Zeit der Anarchie vorbei. Danach hatte jedes Grundstück wieder einen Besitzer, und es gab eine Euphorie der Investoren, dass man sich fragen musste, ob die überhaupt registriert hatten, dass noch ein paar Ost- oder Westindianer auf dem Territorium lebten, das sie nun wiedererobert zu haben glaubten. Man kann ja froh sein, dass Berlin auf Sand gebaut ist. Er kriecht seit Jahrhunderten auch in die gut geölten Rädchen. Berlin hat bisher jedem Gigantismus mit Renitenz geantwortet. Aus den Investitionselefanten der Wendezeit wurden Mücken, aus den Olympiadeplänen wurde ein Milliardengrab, und selbst die Bonner Beamten wurden augenblicklich in ihren frisch renovierten Dachgeschossen absorbiert. Zwar ist der Bruch schief verheilt, und die Stadt hinkt, aber für neu Zugezogene ist kaum noch unterscheidbar, wer woher kommt und wo überhaupt die Mauer verlief.
Ende der 90er machte ein Witz in Prenzlauer Berg die Runde, der eigentlich eine Anekdote war. Ein Mädchen aus Süddeutschland wollte zum Studium nach Berlin kommen und bat ihren in Berlin lebenden Vater, eine Wohnung zu besorgen. Der fragte, wo sie denn wohnen wolle, und das Mädchen schrieb zurück: Nicht im Osten. Sie wolle gerne nach Prenzlauer Berg oder Friedrichshain.
Andererseits ist für die Protagonisten des Kreuzberger Milieus Ostberlin immer noch Terra incognita. Als Christian Ströbele auf Wahlkampftour war, kam er auch nach Prenzlauer Berg, dessen östlicher Teil zu seinem Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg gehört. Ströbele behandelte uns wie rohe Eier und bat darum, ihn – trotzdem wir keine Kreuzberger seien – zu wählen. Dieses Trotzdem hat mich belustigt und zugleich gezeigt, wie sehr Ströbele seinem Milieu verhaftet ist. Zum einen waren die Zuhörer in der Prenzlberger Kneipe zur Hälfte zugezogene Westler, was ungefähr dem Durchschnitt des Bezirks entspricht, zum anderen war da die Frage, was einen Ostberliner Linken davon abhalten sollte, Ströbele zu wählen.
Sicher gibt es in Prenzlauer Berg viele, die noch nicht mal 50 sind und das alte Westberlin meiden. Die biegen an der Oderberger in die Schwedter ab, wenn sie in die Brunnenstraße wollen, statt über die Bernauer abzukürzen. Andererseits weiß die Hälfte der Leute, denen sie in der Oderberger begegnen, nicht mal mehr, dass an der Bernauer vor 16 Jahren noch ein Todesstreifen war. Es gibt keine Vergangenheit mehr, es gibt nur noch Gegenwart. Das kann man bedauern, ändern kann man es nicht.
Bei einer CDU-Wahlveranstaltung in Hildesheim hörte ich Roland Koch von „unserer nationalen Hauptstadt“ schwafeln, die leider von Roten regiert sei. Irgendwie hat mich das stolz gemacht. Der jedenfalls soll hier keinen Fuß in die Tür kriegen.
ANNETT GRÖSCHNER
Annett Gröschner (42) wohnt seit 1983 und bis zur nächsten Mieterhöhung in Prenzlauer Berg
Das Brandenburger Tor bestand aus Millimeterpapier. Mit Bleistift und Lineal zeichnete ich es aus dem Gedächtnis nach, und bei jedem neuen Versuch konnte ich mich nicht mehr daran erinnern, auf wie vielen Säulen das Tor ruht. Immer wieder musste ich in meinem Buch nachschauen, das mir ein dramatisches Berlin-Bild zeigte. Damals war ich 12 Jahre alt, 600 Kilometer von Berlin und noch zwei Jahre von der Wiedervereinigung entfernt. Die Stadt war für mich eine Ansammlung von Bildern und Geschichten. Diesen Blick auf die Stadt teile ich mit vielen aus meiner Generation, die nach der Wende nach Berlin gezogen sind.
Opa erzählt vom Krieg
Wie sie habe ich die Teilung der Stadt nicht persönlich erlebt. Den Verlauf der Mauer muss ich auf dem Stadtplan suchen. 40-Jährige, die von Schikanen am DDR-Grenzübergang erzählen, ersetzen mir den vom Krieg monologisierenden Opa. Ich höre gern zu, wenn Alteingesessene von der geteilten Stadt erzählen oder von den unwirklichen Monaten zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung. Manchmal glaube ich darin eine Art Vorwurf herauszuhören: Du Zugezogener, du weißt ja gar nicht, wie es damals war. Nie erscheinen mir selbst ernannte Alternative, die vor 20 oder 30 Jahren selbst neu in der Stadt waren, älter und im Wortsinne spießiger: Für den Zeitpunkt meiner Geburt kann ich nichts. 40 statt 30 Jahre alt zu sein ist kein Verdienst.
Ich nehme Berlin anders wahr als ein Alteingesessener. Nicht genauer oder unschärfer. Als ich zum ersten Mal zum Brandenburger Tor kam und es anfasste, war ich überrascht, dass sich der Sandstein wie Sandstein anfühlte – und nicht wie das Millimeterpapier meiner Kindheit.
Nur zwei von drei Berlinern lebten schon vor 15 Jahren in der Stadt. Viele kamen und kommen zum Studieren. Mit Zeit und Interesse, die Stadtgeschichte kennen zu lernen, die so oft auch Weltgeschichte gewesen ist. Sie lassen sich auf „Mauerstreifzügen“ den Verlauf des Todesstreifens erklären, besichtigen die Ruine des Palasts der Republik und fragen sich, wie die Grenzer auf der Mitte der Spree patrouillierten. Mit diesem Blick sehen sie Skurrilitäten, die sich dem Blick vieler Alteingesessenen verschließen: Wenn etwa selbst junge Ostberliner, die den Kalten Krieg nur als Kind erlebt haben, entrüstet den Vorschlag ablehnen, in den Westteil zu ziehen. Oder wenn ein CDU-Landesverband noch 15 Jahre nach der Wiedervereinigung bei jeder Handlung des rot-roten Senats „tiefe sozialistisch-kommunistische Ideologie“ am Werk sieht. Viele Neu-Berliner kennen die Stadt besser als manche, die hier geboren sind, denn sie haben nie geglaubt, dass sie ihnen gehört.
Das eingemauerte, immer mehr in seinen Feindbildern verharrende Westberlin der 70er- und 80er-Jahre habe ich nicht persönlich erlebt. Ich kenne kein anderes Berlin als die sich ständig verändernde Hauptstadt. Das Berlin von heute ist für mich daher eine Durchgangsstation, nicht weniger authentischer Teil der Stadtgeschichte als die Nazi- oder Mauerzeit, die 80er-Jahre in Kreuzberg oder die trügerische Boomphase in den 90er-Jahren.
Nirgends ist diese ständige Fluss offensichtlicher als in den so genannten Szenevierteln. In Prenzlauer Berg, Mitte und Friedrichshain lässt sich eben nicht nur die Selbstverliebtheit studierter Mittelstandskinder beobachten. Tatsächlich ist hier eine Mischung aus Ost- und West-Mentalitäten entstanden, die es andernorts in Deutschland nicht gibt. Sie zu erleben schärft den Blick für scheinbar Alltägliches. Wie viele Säulen das Brandenburger Tor hat, vergesse ich zwar immer noch. Aber ich kann ja nachgucken. Ist ja um die Ecke.
MATTHIAS LOHRE
Matthias Lohre (29) wohnt seit 2002 und bis auf weiteres in Prenzlauer Berg