Wochenschnack
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Die veröffentlichten Briefe geben nicht unbedingt die Meinung der taz wieder.

Digitale Zukunft für den ÖPNV

Fahren Soziologe Andreas Knie will den öffentlichen Nahverkehr ent­wirren und ein Bezahlsystem mit Handy statt Fahrschein. Sinnvoll oder nicht?

Noch stehen sie auf U-Bahnhöfen Berlins: Ticketentwerter Foto: Santiago Engelhardt

Stressfrei fahren

betr.: „Der ÖPNV muss sich neu erfinden“, taz vom 28. 1. 17

Herr Knie ist nicht sehr richtungsweisend in seiner Argumentation: ÖPNV kommt aus einer Zeit, wo es keine Alternativen gab?

ÖPNV soll intuitiv sein/erfasst werden, wahrgenommen, benutzt werden können? Warum? Im täglichen Autoverkehrsstress finde ich auch nix Intuitives. Und irgendwann tritt auch ein Trainings- und damit konditionierender (unter Umständen sogar stressfreier) Anpassungsprozess an diesen veränderten verbindlichen Umgang mit individueller Zeit und bei der Wahl von Tarifen ein.

Der Traum vom voll durchdigitalisierten, technifizierten ÖPNV wird sich nicht erfüllen. Jedenfalls so lange nicht, wie ich mich sicherlich auch in den nächsten 30 Jahren weiterhin weigern werde, alles in meinem Alltag per Card zu bezahlen, und auch weiterhin Schaffner, Bus-, Straßenbahnfahrer fragen werde, wo es langgeht und wie ich ans Ziel komme. Mein zentrales Anliegen an den ÖPNV ist zuallererst, dass er bedarfsdeckend seine Service- und Beförderungspflichten gegenüber der Allgemeinheit erfüllt; sozial, volkswirtschaftlich, ökologisch Priorität vor Individual-, also Auto- und Flugverkehr bekommt.

HANS-JOACHIM REICH, Braunschweig

Glücksgefühle

betr.: „Der ÖPNV muss sich neu erfinden“, taz vom 28. 1. 17

Der Ansatz zum „Ticketing“ im ÖPNV, den Sie verfolgen, ist in Stockholm erfolgreich und ausgereift zu erleben und erzeugt Glücksgefühle: Eine kleine Plastik-Checkkarte, einmal erworben und ab dann per Dauerauftrag (oder weniger bequem am Automaten) aufgeladen, verschwindet für immer im Portemonnaie! Fertig. Das war’s schon!

Die am Bahnsteig aufgestellten Automaten erfassen das Kommen und Gehen und rechnen automatisch ab. Fertig. Einfacher geht es nicht. Keine Entscheidung für Kurzstrecke, kein ABC, kein Innentarif. Einmal eine Plastikkarte kaufen kann jeder und jede jeden Alters.

Was wir wirklich nicht wollen, ist das von Ihnen postulierte System mit dem Handy, nein, noch viel schlimmer mit dem Smartphone: eine Technik von Dreißigjährigen für Dreißigjährige, die der alternden Bevölkerung überhaupt nicht gerecht wird! Die haben so ein Ding nicht und wollen es meist auch gar nicht! Und das bleibt noch zwei Generationen so!

Übrigens Stockholm: Die Radwege sind dort ausnahmslos von den Fahrbahnen für Autos durch einen kleinen Bordstein getrennt und drei bis vier Meter breit: also keine Alibientscheidungen wie in Berlin mit den nie geahndet zugeparkten Fahrradstreifen am Straßenrand . . .PETER KUHLEN, Berlin

Ab in den Zoo

betr.: „Der ÖPNV muss sich neu erfinden“, taz vom 28. 1. 17

Wunderbar, der digitale Fortschritt bringt’s in allen Bereichen, überall und jederzeit . . .Die Schallplattenhörer und partiellen Konsumverweigerer haben das Nachsehen. Am besten in den Zoo mit dieser Gattung. Schön für den Herrn Soziologieprofessor, der arrogant und zynisch die Erfordernisse der Jetztzeit zu definieren weiß. Gottlob gibt es neben dieser smarten Lösung die Alternative menschengerechter, sozialer Modelle zur Förderung des ÖPNV, die auch ohne Externalisierung der Digitalisierungsnebenwirkungen und -folgen (Beschänktheit, Fantasielosigkeit und Ignoranz) auskommt.

GISELA BRÄUNIGER, Wackernheim

Bequem zahlen

betr.: „Der ÖPNV muss sich neu erfinden“, taz vom 28. 1. 17

Die Analyse von Herrn Knie stimmt in vielen Teilen, allerdings vermisse ich nach der berechtigten Kritik ein paar Lösungsansätze.

Ein wichtiger Lösungsansatz ist die Schaffung einer bequemen und einheitlichen Zahlungsmöglichkeit. Nur auf die digitale Zukunft mit Apps usw. zu setzen, halte ich für zu kurz gegriffen. Noch lange wird es Menschen ohne Smartphones geben, und dann ist auch noch die Frage offen, ob sich alle Fahrgäste ständig auf ihren Wegen erfasst sehen wollen. Dass ich für eine Fahrt bezahle, ist das eine, dass die Strecke genau bekannt ist, das andere.

Einfacher wäre es, ein einheitliches, nicht personengebundenes Zahlsystem zu schaffen. Hier empfiehlt sich ein Blick in die Niederlande: Die OV-Kaard (openbaar vervoer kaard) ist im ganzen Land – unabhängig vom Verkehrsmittel – gültig. Mit einem Mindestbetrag geladen jederzeit von jeder/m nutzbar, egal wie lang die Strecke ist. Die OV-Card ist sowohl an Bahnhöfen, Haltestellen als auch in Supermärkten zu erwerben, und die geladenen Beträge sind mehrere Jahre gültig. Insgesamt ein einfaches Abrechnungssystem.

Es wäre in unserer föderalistischen Republik ja schon mal ein Fortschritt, pro Bundesland eine einheitliche Variante zu schaffen.

PIA TANA GATTINGER, Marburg

Vorbildlich

betr.: „Der ÖPNV muss sich neu erfinden“, taz vom 28. 1. 17

Seit 2016 kann man bei der KVB mit der Smartphone-App des VRS ziemlich simpel Start und Ziel eingeben und das gewünschte Ticket sofort kaufen. Man muss sich nur einmal registrieren, kann die Vertragsdaten in der App abspeichern und hat sein gewünschtes Ticket in Sekunden inklusive ausführlicher Route mit Umstiegen, Bahnsteigen und Fußwegen. Vergünstigungen werden automatisch berücksichtigt, wenn man eine Strecke mehrfach fährt. Und das funktioniert sogar über das Tarifgebiet hinaus im Verbund von Aachen bis Remscheid auch für die Regionalbahnen. Als Pendler aus der Aachener Region nach Köln habe ich lange auf diese einfache Möglichkeit gewartet und finde sie vorbildlich. ULRICH PRINZ, Stolberg

Zu teuer

betr.: „Der ÖPNV muss sich neu erfinden“, taz vom 28. 1. 17

Es geht doch nicht um das Wie beim Erwerb von Fahrkarten. Es geht darum, dass der öffentliche Nahverkehr zu teuer und zu unflexibel ist. Sie wollen ein Smart­phonebezahlsystem einführen? Kann sich jeder ein Smartphone für mindesten 300 Euro leisten? Geht es in einer Solidargemeinschaft nicht darum, dass wir (jung oder alt) schnell und günstig von A nach B kommen? Kann es sein, dass wir für eine Drei-Haltestellen-Fahrt 2,20 Euro bezahlen und zurück das Gleiche noch mal? Oder dass Sie für eine Fahrt 15 Kilometer aus dem Stadtzentrum heraus 40 Minuten brauchen, dreimal umsteigen und dafür 3,80 Euro bezahlen? Mit dem Auto schaffen Sie den Weg in zehn Minuten. Das sind die Probleme des Nahverkehrs und nicht, wie ich in den Weltstädten Berlin und Hamburg am besten bezahle.

Was wir brauchen, sind flexible Fahrsysteme. Da fahren Busse mit 60 Sitzplätzen und Dieselmotoren mit 200 kW in Schwachzeiten unbesetzt übers Land, und in den Stoßzeiten, wenn Schüler und Arbeiter unterwegs sind, bekommen Sie keinen Platz im Bus. Busse fahren gleichzeitig parallel an den S-Bahn- und Straßenbahnstrecken entlang. Farradmitnahme in Bussen ist unmöglich, bei S-Bahn-Zügen nur nach und vor den Stoßzeiten. Natürlich kostet das Fahrrad den kompletten Preis. Also: Bevor ihr an die Software (Bezahlsystem) geht, müsst ihr erst mal die Hardware (Organisation öffentlicher Nahverkehr) bearbeiten.

JÖRG SELINGER, Pfaffenweiler