: Begeisterung lernen
Liebeserklärung Wo wir auf die Welt kommen, ist Zufall. Wie wir zusammenleben, nicht. Tun wir etwas für eine bessere Gesellschaft
Patriotismus ist keine für meine Identität relevante Kategorie. Heißt aber nicht, dass er per se schlecht ist. Ich denke da zum Beispiel an die Kanadier und deren Premierminister – ja, der charmante Typ, der härter an seinem Socialmedia-Auftritt arbeitet als an der Landespolitik – ich hab die Kritiken gelesen. Dennoch, wie oft hab ich gedacht: Was für tolle Menschen, die tolle Sachen machen – Kanada muss ein schönes Land sein. Aber hier leben auch tolle Menschen. Warum also fiel es mir so schwer, mich auf die gleiche Weise für Deutschland zu begeistern? Vor einigen Wochen stieg ich abends aus dem Bus und stolperte in eine Menschentraube, die sich um eine ältere Frau gebildet hatte. Sie war gestürzt und hielt sich den blutenden Mund. Jemand hatte sie aus dem Bus geschubst, unklar, ob aus Boshaftigkeit oder im Gedrängel. Jedenfalls besorgten die Passanten Taschentücher und Wasser, trösteten die Verletzte und blieben bei ihr, bis der Notarzt kam. Die Frau wirkte verlegen. Sie arbeite in einer Geflüchtetenunterkunft, für gewöhnlich sei sie es, die anderen hilft. Einer der Helfenden sagte: Wer Gutes tut, wird Gutes erfahren. Mich hat dieser Moment sehr gerührt,so sehr, dass es mir peinlich war.
In Deutschland tun Menschen Gutes. Genau darüber hatte ich vor Kurzem eine Unterhaltung mit meiner Familie. Wir sprachen über meine Freundin A., die die Vormundschaft für einen geflüchteten Minderjährigen übernommen hat, und unseren Bekannten R., der in seiner Apotheke das Geld eines Wohnungslosen verwaltet, damit es ihm auf der Straße nicht geklaut wird, als meine Schwester plötzlich sagte: „Almanlar ne kadar güzel insanlar değilmi/ Sind Deutsche nicht ganz wunderbare Menschen?“ Die Runde schwieg für einen Moment. Ja, in der Tat. Sie sind ganz wunderbare Menschen. Sie engagieren sich für Geflüchtete und Wohnungslose, übernehmen Paten- und Mentorenschaften für Kinder aus bildungsfernen Familien, organisieren Spenden für Bedürftige und Protestaktionen gegen Arschlöcher, gründen gemeinnützige Vereine und initiieren Solidaritätsprojekte für was auch immer.
Wo wir auf die Welt kommen, ist random shit, wie wir zusammenleben, nicht. Ich will in einer solidarischen und offenen Gesellschaft leben, in der Menschen einander achten, gleich welcher Herkunft, Religion, Hautfarbe, sexueller Orientierung, körperlicher oder geistiger Fähigkeiten. Und auch, wenn ich Wut über politische, wirtschaftliche und soziale Ungleichheit, die es auch hier in Deutschland gibt, für richtig halte, Weltschmerz wird unser Leben nicht besser machen. Notiz an die Zynikerin in mir: Das nächste Mal, wenn du über die Ungerechtigkeiten und das Schlechte in der Welt kotzt, denk daran, dies ist ein Land mit wunderbaren Menschen, die tolle Sachen machen. Wir alle sollten überlegen, welchen Beitrag wir für eine bessere Gesellschaft leisten können.
Canset Icpinar
Redakteurin von taz.gazete
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