„Mit jiddischen Liedern gegen Raketen“

Erinnern Karsten Troyke und Jalda Rebling initiierten 1987 die ersten jüdischen Kulturtage in der DDR. 30 Jahre danach feiern sie den Jubiläumstag und berichten über die Funktion jiddischer Musikkultur

Karsten Troyke und Jalda Rebling, Anfang Januar in der Wohnung Reblings in Berlin Foto: Wolfgang Borrs

taz: Frau Rebling und Herr Troyke, am 27. Januar feiern Sie das 30-jährige Jubiläum der Tage der jiddischen Kultur. Sie sind beide Musiker in der Band „Aufwind“ gewesen, als Sie diese Kulturtage 1987 in der DDR zum ersten Mal ausgerichtet haben. Wie ist es dazu gekommen?

Jalda Rebling: Auf die Idee gekommen bin ich 1984 auf dem ersten European Jiddish Festival in Zürich. Da waren lauter tolle Künstler aus aller Welt, aber nicht aus Osteuropa, aus Warschau, Bukarest, Vilnius. „Kann nicht sein“, dachte ich, „ihr macht hier Jiddisch, aber die Leute an den Orten, wo es herkommt, die vergesst ihr!“ Damit war der Traum geboren, ein jiddisches Festival in Berlin zu machen – auch mit Künstlerinnen und Künstlern aus dem Osten. Schließlich gab es den glücklichen Zufall, dass die Schauspielerin Liane Düsterhöft den Auftrag bekam, das Theater unterm Dach aufzubauen. Sie hatte freie Hand bei der Programmgestaltung und fragte mich nach Ideen. Wir hatten im ersten Jahr zwar kein Geld, aber es gab in Berlin genug Leute, die sich mit jiddischer Musik und Literatur beschäftigten.

Die Geschichte der jiddischen Musik in der DDR fängt mit Ihrer Mutter, Lin Jaldati, an. Sie wurde in Bergen-Belsen befreit und ging 1952 aus Amsterdam mit ihrem Mann Eberhard Rebling in die DDR. Die befreundete Anna Seghers hat ihr gewissermaßen den Auftrag gegeben, mit ihrer Musik die Trümmer aus den Köpfen der Menschen zu fegen.

Rebling: Ja, das war ein ziemlich großer Auftrag und sie hat ihn auch so verstanden. Sie machte jiddische Lieder in der DDR und darüber hinaus bekannt. Aber sie hatte mehr als nur diese eine Seite: Sie füllte mit ihrer unbeschreiblichen Präsenz den Raum auf der Bühne, aber lag oft auch tagelang mit Depressionen im Bett. Sie wollte die Entscheidung, nach Deutschland zu gehen, vor sich und ihrer Schwester rechtfertigen. Nach außen hin hat sie dieses Land, die DDR, verteidigt, wie man ein Kind verteidigt, aber auf der anderen Seite hat sie sehr wach gesehen, was hier passiert. Als Biermann ausgewiesen wurde, hat sie getobt: ‚Man kann einem Menschen keinen Pass wegnehmen.‘

Sie war im offiziellen Kulturleben der DDR angekommen. Dann kam der Sechstagekrieg.

Rebling: Ja, und es war über Nacht vorüber. Meine Mutter hat am 5. Juni 1967, dem 25. Todestag von Mordechai Gebirtig, noch ein Konzert im Haus der polnischen Kultur gegeben. Da saßen Partei- und Staatsführung in der ersten Reihe. Am nächsten Tag, als der Krieg ausbrach, wurden jüdische Intellektuelle der DDR aufgefordert, eine Erklärung gegen den „Aggressor Israel“ zu unterschreiben. Zwei haben sich geweigert, meine Mutter und Arnold Zweig. Das hat man ihr verübelt. Sie wurde aus Radiosendungen herausgeschnitten und nicht mehr zu Konzerten eingeladen.

Das änderte sich erst 1975 wieder.

Rebling: Ja, da erhielt sie eine Einladung zu den Berliner Festtagen, das Konzert war sofort ausverkauft, sodass aus einem Konzert drei wurden.

Karsten Troyke: Man muss aber bedenken, dass sie während der gesamten Zeit in der DDR nur eineinhalb Alben veröffentlichen konnte. Es gab also schon enorme Vorbehalte.

Wo konnten Sie als jiddische Performerinnen und Performer denn für gewöhnlich auftreten?

Troyke: Meine ersten Auftritte waren in Jugendclubs, Studentenclubs und beim Kulturbund. Die evangelischen Kirchen hatten ein sehr regelmäßiges Interesse an Veranstaltungen zum Thema Judentum. Besonders ab 1982 wurden Kirchen ja auch Orte jeglicher Opposition – in Ermangelung anderer Räume. Meine Erklärungen in den Programmen waren immer ein wenig Geschichtsunterricht, was aus heutiger Sicht wie eine Rechtfertigung klingen kann. Als hätte ich beweisen müssen, dass wir es bei der jiddischen Kultur mit einer eigenen Kultur zu tun haben.

Rebling: Jiddisch war Teil der Friedensdekaden in den siebziger und achtziger Jahren. Wir haben mit jiddischen Liedern in den Kirchen gegen die Raketen in Ost und West gesungen. Ich hab immer wieder die Nobelpreisrede von Itzchak Bashevi Singer zitiert: „Jiddisch ist die Sprache der Machtlosen …“

Troyke: „… die Sprache der furchtsamen und hoffenden Menschheit.“

Übernahm das Jiddische nicht auch eine Feigenblattfunktion für die DDR?

Jalda Rebling wurde 1951 in Amsterdam als Tochter der niederländischen Sängerin Lin Jaldati geboren. Sie ist eine Chasan (jüdische Kantorin), Sängerin und Spezialistin für jüdische Musik(-geschichte).

Karsten Troyke wurde 1960 in Ostberlin geboren, ist Chansonsänger, Schauspieler und Sprecher, der sich vor allem mit jiddischen Liedern international einen Namen gemacht hat.

Troyke:Das passierte erst ab 1988, dem 50. Gedenktag zur Reichspogromnacht. Beide deutschen Länder wollten zeigen, dass sie dessen besser gedenken können als das jeweils andere Deutschland. Außerdem ging Honecker wohl von dem antisemitischen Klischee aus, dass die Juden die USA beherrschen. Da er wirtschaftliche Kontakte in die USA wollte, lud er Edgar Bronfman, den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, ein. Die wenigen Interpreten jiddischer Musik bekamen viel mehr Einladungen als früher, und ich durfte sogar einer Einladung nach Darmstadt in den Westen durch die SPD folgen. Plötzlich gab es „jüdische Kultur“ auch im offiziellen Kulturleben.

In der Zeit wurden Sie ja auch zur Unesco eingeladen.

Rebling: Das war 1987, direkt nach dem Festival und wohl unabhängig von Honeckers Bestrebungen. Das Festival wurde Teil der Unesco-Weltdekade für kulturelle Entwicklung. So konnten wir internationale Künstlerinnen und Künstler einladen, das rettete uns, auch nach der Wende.

Anfang der Neunziger ging dann der Klezmer-Boom los.

Rebling: Ich denke, die Zeit war reif für zahlreiche Auseinandersetzungen um die Geschichte, und in dem Zusammenhang sehe ich auch den Klezmer-Boom. Alan Bern, der 1987 nach Westberlin gekommen ist, sagte zum Beispiel, sie hätten Jiddisch nach Deutschland zurückgebracht. Für uns hat das so nicht gestimmt. Es gab jiddische Musik die ganze Zeit, zumal in den Siebzigern mit den Friedensdekaden.Troyke: Der Klezmer-Boom in den Neunzigern hatte meines Erachtens auch viel mit einem Ersetzen zu tun – Ersetzen von dem, was verloren gegangen ist mit etwas Gutgelauntem.

Frau Rebling, Sie haben anfangs mit Ihrer Mutter Konzerte gegeben.

Rebling: Ja, meine Mutter hat mich 1978 überredet, bei einem Abend für Anne Frank mit ihr zu singen. Meine Mutter und ihre Schwester waren ja die Letzten, die Anne Frank gesehen hatten. Freunde haben gesagt: „Jalda, du musst einfach weitermachen.“ Da hab ich schnell meine musikalischen Begleiter Hans-Werner Apel und Stefan Maass gefunden und mit ihnen meinen eigenen Weg. Unsere erste in der DDR erschienene LP hieß „ir me quiero“ („Ich will fort“) – sephardische Lieder und Romanzen. Ich vertiefte mich dann immer mehr in das jüdische Mittelalter, seine Literatur und Musik und in die jüdische Liturgie.

Herr Troyke, war es für Sie eine Form von Revolte, jiddische Lieder zu singen?

Troyke: Eher im Gegenteil. Ich habe die Tradition meiner Familie fortgesetzt und die jiddischen Schallplatten meines Vaters Josh Sellhorn in seinem „Jüdischen Abend“ ersetzt, indem ich die Lieder selber sang. Mein Vater fühlte eine gewisse Verantwortung für seine eigene jüdische Familie, die sich „Arierpapiere“ erkauft hatte und so überleben konnte. Die Familie meiner Mutter war im Widerstand gegen die Nazis gewesen und hatte viel mehr zu leiden gehabt. Die ersten Lieder, die ich gelernt habe, waren Partisanenlieder, und meine Eltern liebten jiddische Lieder.

„Das Lied ist geblieben“: Unter diesem Motto fand am 27. Januar 1987 – 42 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz – das erste Berliner Jiddisch-Festival in der DDR statt. Im Theater unterm Dach und in der Wabe richteten Karsten Troyke und die Gruppe Aufwind die erste Veranstaltung zu diesem Themenkomplex in der DDR aus. Später wurde das Festival Projekt der Unesco-Weltkulturdekade.

Das Festival begann mit osteuropäischem Schwerpunkt, ab 1990 lud man vermehrt Gäste aus Westeuropa und den USA ein. Die auftretenden Künstlerinnen und Künstler interpretierten dabei fast vergessene und auch neuere jiddische Literatur und Lieder. Diskussionen und Debatten waren von Beginn an Teil der jiddischen Kulturtage.

30 Jahre nach Gründung gibt es nun vom 27. bis 29. Januar wieder „Tage der jiddischen Kultur“ in der Wabe und im Theater unterm Dach. Unter anderem treten Aufwind, Daniel Kahn, Jalda Rebling, Andrej Jendrusch sowie Karsten Troyke & friends auf. Das gesamte Programm finden Sie unter www.wabe-berlin.de und www.theateruntermdach-berlin.de

In Ihrer Karriere begegnen Sie immer wieder einer Frage: „Sind Sie Jude?“

Troyke: Ja, das hat mich all die Jahre genervt. Wenn ich das dann verneint habe, dann war die Reaktion von „Aha, okay“ bis „Na, da haben Sie uns ja was vorgemacht“. Anders als wenn die Zuschauer einen französischen Chansonabend besuchen, wollen sie immer wieder wissen: Ist das jetzt echt? Nur: Was ist echt? Was ist jüdisch? Was ist jüdische Musik?

Rebling: Ist die Nationalhymne der DDR jüdische Musik, weil sie von dem Juden Hanns Eisler vertont wurde? Es gab Mitte der Neunziger eine völlig schräge Diskussion dazu: „Dürfen Nichtjuden jüdische Musik singen?“ Da war meine Antwort: „Na, dann dürfen Juden aber auch kein Bach singen.“ Was soll diese Frage?

1997 hat das Festival zum letzten Mal stattgefunden. Wieso veranstalten Sie jetzt das dreißigjährige Jubiläum?

Rebling: Wir möchten erinnern. Das Besondere an dem Festival war ja immer der Fokus auf der osteuropäischen jiddischen Literatur und der Musik.