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Immer muss ich alles sollen

Theater Es gibt viele gute Gründe, darüber nachzudenken, ob und wie die Zehn Gebote heute noch unsere Gesellschaft prägen. Jette Steckel versucht eine „Recherche“ am Deutschen Theater – und bleibt ohne Ergebnis

Sie müssen die Figuren von 15 Autoren an einem Abend stemmen: die Schauspieler Foto: Marcus Lieberenz

von Barbara Behrendt

Das ist schon klar: Das Grundgesetz baut auf Moses’ Zehn Geboten auf, die fundamentalen Werte der westlichen Gesellschaft stehen dort geschrieben, alle Gebote haben (oder hatten) Sinn und Bedeutung. Trotzdem wünschte man sich an diesem ellenlangen, vierstündigen Abend im Deutschen Theater, Moses hätte damals nur halb so viele Gesetze vom Sinai heruntergeschleppt. Dann wäre auch hier womöglich eine ansehnliche Geschichte draus geworden …

Schon die Zahl der mitwirkenden Künstler macht schwindlig: 15 Autoren, Filmemacher, Musiker haben Minidramen, Monologe, Essays, Lieder, Videoclips, Interviews geliefert. Das siebte Gebot gibt es gleich doppelt, einmal ins Gegenteil verkehrt: „Du sollst stehlen“ heißt die Moral in Juri Sternburgs Skizze.

Rocko Schamoni steuert als Zugabe das elfte Gebot bei – eine Minicomedy, in der sich Gott beim Publikum für seine Schöpfungspannen entschuldigt. Zwölf Kapitel also insgesamt, so unterschiedlich wie ihre Autoren: Die poetisch intensive Sprache Nino Haratischwilis steht neben einem (dialogisierten) Kurzessay des Migrationsforschers Mark Terkessidis zur Neiddebatte, banale Videostraßenbefragungen prallen auf die grotesken Sprachkaskaden der Dramatikerin Felicia Zeller.

Florian Lösche hat eine hohe, zylinderförmige Drehbühne gebaut, die auf zwei Etagen bespielt wird. Zu Beginn hüpfen die neun Schauspieler, die das breite Figurenspektrum zu tragen haben, zum hippen Kinderlied „Immer muss ich alles sollen“ und krakeln mit Kreide die Gebote samt jeweiligen Autorennamen auf die Bühnenwand. Gut so – eine Orientierung, die man braucht.

Navid Kermani hat einen Monolog geschrieben, in dem von einem liebenden Vater berichtet wird, der seinen eigenen Sohn töten möchte, sobald der seiner Kindheit entwächst. Er will ihm die Verzweiflung, die Einsamkeit des erwachsenen Menschen ersparen. Kermanis Text ist stark, von kühler Präzision – warum jedoch Andreas Pietschmann ihn als Gebot „Du sollst nicht stehlen“ präsentiert, weiß der Himmel.

Auch das Libretto von Dea Loher, der Tragödin unter den Theaterautorinnen, hat dramatische Kraft. Die junge Regisseurin Jette Steckel, längst eine Größe an den Theatern, inszeniert es zum zweiten Mal – 2015 hatte sie die Uraufführung an der Hamburger Staatsoper besorgt. Kein Originalbeitrag also, er lässt sich auch eher schlecht als recht unter das zehnte Gebot stellen („Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat“).

Im Nahen Osten hat der Krieg ein Liebespaar entzweit – als der junge Mann sich nach 15 Jahren endlich zurückkämpft, hat seine Geliebte sich aus Kummer vom Dach gestürzt. Ole Lagerpusch, Natali Seelig, Andreas Pietschmann, Markus Graf und Lorna Ishema sprechen die rhythmische Sprache zu dezenten Orgelklängen silbengenau und einfühlsam. Aber während man den Figuren, dem Verrat, der Schuld noch nachhängt, folgt, schwupps, die nächste Geschichte.

Er will ihm dieVerzweiflungdes erwachsenenMenschen ersparen

Die Intention ist deutlich: Steckel will unsere multiet(h)nische Gesellschaft spiegeln, das weite Spektrum kultureller und religiöser Ansichten aufzeigen. Doch aus Pluralität wird hier ein oberflächlicher Mix. Zumal der Abend sich auch in den disparatesten ästhetischen Angängen verliert: Die eher dürftige Musikeinlage Rocko Schamonis kann neben einer Komposition wie der von Loher einfach nicht bestehen.

Dass es auch anders geht, haben frühere Inszenierungen bewiesen. Die Kunst hatte schon immer das Thema der Zehn Gebote gesucht – das ging von Cecil DeMilles biblischem Monumentalkino bis zu Krzysztof Kieślowskis Filmzyklus „Dekalog 1–10“, der die Zehn Gebote in Fallbeispielen auf den Prüfstand unserer Zeit stellte. Johan Simons brachte 2005 eine Kieślowski-Adaption auf die Bühne – ein großer Erfolg an den Münchner Kammerspielen. Von Kiel über Bremen bis Frankfurt wurden und werden die „Zehn Gebote“ gespielt. Und immer die Frage: Wie relevant oder obsolet ist dieses Regelwerk für uns?

Steckel bleibt jede Antwort schuldig, indem sie ganz bewusst moralische Standpunkte vermeidet. Das geht so weit, dass sie Haratischwilis spannungsgeladenes Psychodrama zum Thema „Ehebruch“ (Fremdgehen als ein Zu-sich-Kommen und Sich-fremd-Werden zugleich), anders als von der Autorin intendiert, sogar in ein fideles Finale münden lässt.

Der Abend wollte einen „Denkraum“ öffnen – aber er kreiert ein Potpourri der Beliebigkeiten.

Wieder am 26. Januar, 12. und 26. Februar im Deutschen Theater zu sehen

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