: Lesen hinter Gittern
Seit 20 Jahren versorgt der Verein „Freiabonnements für Gefangene“ Häftlinge deutschlandweit gratis mit Zeitungen und Zeitschriften
VON RETO GLEMSER
„Das ist grauenhaft, das perfekte Gammeln.“ Christian Pfeiffer weiß, wie der Alltag der meisten der rund 80.000 Straf- und Untersuchungsgefangenen in Deutschland aussieht. Der Vorstand des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen und ehemalige niedersächsische Justizminister beschäftigt sich seit über dreißig Jahren mit den Haftbedingungen in deutschen Gefängnissen. Jeder Zweite ist hier arbeitslos und verdient kein Geld. Der unflexible, bürokratische Vollzugsalltag und der fehlende, planerische Weitblick vieler Anstaltsleitungen verurteilen die Häftlinge allzu oft auch zu Passivität und Isolation. „Es ist furchtbar“, so Pfeiffer, „das einem Menschen über längere Zeit zuzumuten. Der Resozialisierung ist das nicht dienlich.“ Um das zu ändern, überzeugte der Kriminologe schon 1973 den früheren Bundespräsidenten Gustav Heinemann, die Schriftsteller Heinrich Böll und Günter Grass sowie andere Prominente davon, sich für verbesserte Haftbedingungen in deutschen Gefängnissen einzusetzen: Die Gruppe um Pfeiffer und einen befreundeten Journalisten begann, Häftlingen Zeitungsabos zu schenken. 1985 schließlich fand diese Idee mit dem gemeinnützigen Berliner Verein „Freiabonnements für Gefangene“ ihren organisatorischen Rahmen.
Aus über 35 verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften – vom Spiegel über den Rheinischen Merkur bis zur Jungle World – können Häftlinge mittlerweile wählen, wenn sie sich bei dem Verein um ein Gratisabo bewerben. Darüber hinaus werden Bücher für Gefängnisbibliotheken, Briefkontakte und Weihnachtspakete vermittelt. „Bemerkenswert dabei ist, dass es diesen Verein nach 20 Jahren immer noch gibt“, sagt Vorstand Gert Behrens, denn „Freiabonnements für Gefangene“ finanziert sich ausschließlich über private Spenden und Beiträge, Fördermittel und Verlagsrabatte. Etwa 3.200 Gefangene in ganz Deutschland profitieren derzeit von dem Angebot, 1.600 stehen auf der Warteliste. Die taz beliefert mit täglich 650 Exemplare nicht nur die meisten Gefangenen in Deutschland, sondern arbeitet unter dem Motto „Jedem Knacki seine taz“ auch seit Gründung des Vereins eng mit diesem zusammen, etwa wenn es um das Schalten kostenloser Anzeigen geht.
Hinter Gefängnismauern vergeht die Zeit anders, langsamer und stiller, oftmals unerträglich schleppend. „Das ist ein Wegschließen und Dahinvegetieren“, erzählt R. von seinem Haftalltag in einer großen deutschen Jugendvollzugsanstalt. Für ein zufriedenstellendes Kulturangebot fehlt den Anstaltsverwaltungen und den Häftlingen in aller Regel das Geld. Was bleibt, ist oftmals nur der Rückzug in die eigene Gedankenwelt, die nach einigen Wochen hinter Gittern leer und farblos wird, da das Leben jenseits der Mauern nur noch Erinnerung ist. In einer Untersuchung des Vereins „Freiabonnements für Gefangene“ gaben knapp 72 Prozent der befragten Häftlinge an, sich häufig oder phasenweise zu langweilen. Gesundheit und Psyche, das Leben der Gefangenen allgemein leiden sehr unter dieser Langeweile. „Wir hatten im Knast immer viel zu wenig Zeitungen und Zeitschriften. Besonders die Zeitschriften wurden daher noch monatelang untereinander weiterverliehen“, erinnert sich J., seit fünf Monaten wieder in Freiheit.
„Eine Zeitung ist ein selbstbestimmtes Bildungs- und Bindemittel zur Gesellschaft“, erklärt Behrens. Dieses Bildungs- und Bindemittel verhindert, dass Gefängnisinsassen ihre Haftzeit einfach nur absitzen und die Verbindung zur Außenwelt verlieren. Es hilft ihnen, neue Perspektiven zu entwickeln und bereits vor ihrer Entlassung eine Wohnung und einen Arbeitsplatz zu suchen. Und: Es trägt dazu bei, das Warten auf den Tag der Entlassung erträglicher zu machen.