Kriegsverbrechen in Ex-Jugoslawien: Die Schuld des General Mladić
Der Prozess gegen Ratko Mladić steht vor dem Ende. Die Anklage hält ihn verantwortlich für Vergewaltigungen, Vertreibung und Völkermord.
Die Zuschauer sind durch eine kugelsichere Glaswand vom Gerichtssaal getrennt, die bei Bedarf durch einem Vorhang verschlossen wird. Doch jetzt ist der Blick frei, man hat das Gefühl, sich mitten im Geschehen zu befinden.
Links an der Wand, kaum ein paar Meter entfernt, sitzt der Angeklagte in seinem grau schimmernden Anzug, davor in zwei Reihen ein Dutzend seiner Verteidiger, die eifrig die Ausführungen der Anklage notieren und an ihren Computern arbeiten. Rechts haben die Ankläger mit ihren Gehilfen Platz genommen. Und über allen thront das Gericht mit dem grauhaarigen Vorsitzenden Richter, dem niederländischen Juristen Alphons Orie, dem Südafrikaner Bakone Justice Moloto und dem Deutschen Christian Flügge.
Das Verfahren gegen Ratko Mladić gehört zu den letzten Aktivitäten des „International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia“ (kurz: ICTY und auf Deutsch „Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien“), wie das Gericht offiziell heißt. Dann wird das Hohe Gericht über 161 der Kriegsverbrechen angeklagten Personen geurteilt, 4.650 Zeugen vernommen und 2,5 Millionen Seiten an Zeugenaussagen und Gerichtsverfahren dokumentiert haben. Der Mladić-Prozess markiert das Ende für das 1993 gegründeten Gerichts. Und seinen Höhepunkt.
Panorama des Krieges
Der charismatisch auftretende „Lead Prosecutor“ Tieger und seine Mitankläger haben in den vergangenen drei Tagen ein umfassendes Panorama des Bosnienkrieges ausgebreitet. Sie versuchten, die Verantwortung Mladić’schon zu Beginn der Kämpfe 1992 an den Verbrechen vornehmlich gegen bosnische Muslime im Tal der Drina, in den Städten Višegrad und Foča, nachzuweisen. Nach den Aussagen von Überlebenden wurden dort nach der Eroberung durch serbische Streitkräfte Männer von Frauen getrennt; viele der Männer ermordet, viele Frauen in Vergewaltungslager gebracht oder als Sexsklavinnen missbraucht.
Planmäßig sei das System der ethnischen Säuberungen aufgebaut worden, erklärte Tieger am Dienstag. Die schon vor dem Krieg in vielen Städten Bosniens errichteten serbischen Krisenstäbe hätten nach der militärischen Einnahme der Orte durch die von Mladić befehligte Armee und den mit ihnen kooperierenden Freischärlergruppen Verhaftungslisten bereitgestellt. So konnte sofort mit der Verhaftung von Nichtserben begonnen werden.
Exemplarisch für diese Strategie sei das Vorgehen in der westbosnischen Gemeinde Prijedor im Sommer 1992 gewesen. In den dort errichteten Lagern Omarska, Keraterm, Manjača und Trnopolje wurden Tausende Menschen erniedrigt, gefoltert, vergewaltigt und ermordet. Das alles erfülle die Kriterien für einen Völkermord, betont Tieger.
Am Mittwoch wird der Ton das Anklägers noch schärfer. „Das alles gehört zu dem politischen Plan, dem Ratko Mladić gefolgt ist.“ Dabei sei es nicht nur um die Eroberung von Territorien gegangen: „Es ging um die Vertreibung aller Nichtserben aus dem eroberten Raum.“ Dabei sei jedes Mittel recht gewesen. Mladić habe die sogenannte „Directive 7“, den Plan der politischen Führung der bosnischen Serben, umgesetzt; er habe die Armee, die Polizei, die Freischärlertruppen und die Staatsorgane gleichgeschaltet, um das ihm gestellte Ziel zu erreichen.
Völlige Kontrolle?
Der Angeklagte wiegt seinen Kopf. Er ringt mit sich. Als Offizier und Oberkommandierender muss Ratko Mladić ja einerseits alles im Griff gehabt haben. Andererseits will er offenbar nicht für alle Untaten verantwortlich sein.
Mladić’Verteidigung hat ihre Strategie vor dem UN-Gericht darauf angelegt, Folterungen, Morde und Vergewaltigungen seinen Untergebenen in die Schuhe zu schieben, sagt Tieger. Den Verteidigern zugewandt betont er noch einmal, Mladić habe die völlige Kontrolle über die Geschehnisse gehabt.
Ein Überlebender des Massakers von Srebrenica und einer der Konzentrationslager in Westbosnien kämpfen im Zuhörerraum mit ihren Gefühlen. Einem Mann gegenüber zu sitzen, der den Tod von nächsten Verwandten, Nachbarn und Freunden zu verantworten hat, ist nicht einfach.
Den Überlebenden wurde Hab und Gut genommen, sie verloren ihre Heimat, das eigene Leben und das ihrer Familien liegt bis heute in Trümmern. Das Plädoyer von Alan Tieger ist Balsam für ihre Seelen. „Trotz allem, niemals hat es nach dem Krieg von bosniakisch-muslimischer Seite Racheakte gegeben, wir hätten ja allen Grund dazu, aber wir haben uns zivilisiert verhalten, wir fordern aber Gerechtigkeit von diesem Gericht“, sagt Ahmed A.
„Hast du das auch gesehen, hat sich Mladić nicht eine Träne abgewischt?“, fragt eine holländische Kollegin in der Pause. Als die Ankläger über das Schicksal einzelner Frauen aus Srebrenica berichten, über die Ermordung von mehr als 8.000 halbwüchsiger Jungen und Männern in Srebrenica Juli 1995, als berührende Einzelheiten aus persönlichen Schicksalen ausgebreitet werden, benutzt Mladić in der Tat seine Taschentücher relativ häufig, um sich über Stirn und Augen zu wischen. „Wird Schweiß gewesen sein“, kontert ein britischer Kollege trocken.
Wer die Macht hat …
Lebendig wird Ratko Mladić, als über seine Vita gesprochen wird. Als der Ankläger über seinen Aufstieg vom mittleren Offizier der Jugoslawischen Volksarmee zum Kommandanten im kroatischen Knin 1990, seine Berufung zum Oberkommandierenden der serbischen Truppen im Bosnienkrieg 1992 referiert, nickt er zustimmend. Und richtig in Begeisterung gerät der General bei den Ausführungen Tiegers über die Belagerung der bosnischen Hauptstadt Sarajevo.
wurde 1943 im ostbosnischen Dorf Kalinovik geboren. Nach einer Ausbildung zum Dreher besuchte er die Militärakademie. 1965 wurde er als Leutnant in die Jugoslawische Volksarmee (JNA) aufgenommen.
Nach Ausbruch der Kämpfe in Kroatien im Frühjahr 1991 wurde Mladić in die mehrheitlich von Serben bewohnte Region um die Stadt Knin entsandt. Offiziell sollte die JNA dort Kämpfe verhindern, faktisch griff sie auf serbischer Seite ein. Dafür wurde Mladić zum Generalmajor befördert.
Im Mai 1992 ernennt das Parlament der international nicht anerkannten Serbenrepublik in Bosnien und Herzegowina Mladić zum Chef des Generalstabs ihrer Armee. Drei Jahre später erhebt das UN-Jugoslawientribunal Anklage wegen Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen.
Nach dem Bosnienkrieg Ende 1995 taucht Mladić unter. 16 Jahre später, am 26. Mai 2011, wird er in Serbien festgenommen und an das Kriegsverbrechertribunal ausgeliefert. (rr)
Auch dem von der Anklage vorgeführten Film über die Belagerung der Stadt, den Artilleriebeschuss und die Schüsse der Heckenschützen auf Zivilisten schaut er interessiert zu. Bei seiner von Tieger zitierten Aussage aus dem Sommer 1992, keine Maus könne die 500.000 Einwohnerstadt mehr verlassen, sondern nur Vögel, blickt er lachend in den Zuschauerraum. Beifallsheischend.
Als Tieger den General mit dem Satz zitiert, wer die Macht habe, sei auch in der Lage, neue Grenzen zu ziehen, ballt der die Faust. „Da“, sagt er. „Ja.“ Ratko Mladić hat seine Kriegsziele erreicht: Bosnien und Herzegowina bleibt in zwischen Serben, Kroaten und Muslimen zerrissen, die serbische Teilrepublik „Republika Srpska“ gäbe es ohne ihn nicht. Darauf ist der Exoberkommandant ganz offensichtlich stolz.
Das Plädoyer neigt sich dem Ende zu, noch einmal gerät Ankläger Tieger in Rage. Eine allumfassende Macht habe sich Mladić aufgebaut. Einer Gruppe von Gefangenen erklärte er, ihnen würde nichts passieren, sie könnten gehen, er war gnädig, sagt Tieger. Und hebt die Stimme: In Srebrenica und vielen anderen Orten in Bosnien habe sich der General für die Ermordung der Menschen entschieden. Mladić war Herrscher über Leben und Tod.
Beleidigung der Opfer
„Es wäre eine Beleidigung der Opfer – lebend oder tot – und ein Affront gegen die Justiz, eine andere Strafe zu verhängen als die rechtlich schwerstmögliche: lebenslang.“ Tieger verlässt erschöpft das Rednerpult.
Im Gesicht von Ratko Mladić regt sich nichts. Seine aus Serbien stammenden Verteidiger packen ihre Papiere zusammen, tuscheln mit dem Angeklagten. Ab Freitag werden sie drei Sitzungstage Zeit haben, auf die Anklage zu antworten. Und selbst wenn sich die drei Richter irgendwann im nächsten Jahr für „lebenslang“ entscheiden, bleibt ihnen die Möglichkeit der Berufung.
Der Vorhang im Gerichtssaal senkt sich wieder.
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