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Die Rache der „heidnischen“ Polaben

Missions-Krimi In Ratzeburg spielt Christoph Ernsts Geschichte einer jungen Frau, die kurz vor der Steinigung des Mönchs Ansverus im Jahr 1066 ermordet wurde

Grauen unter der Oberfläche: Ratzeburger See mit Dom Foto: Markus Scholz/dpa

Von Petra Schellen

Und wenn er nun gar kein Märtyrer war, der 1066 gesteinigte Ansverus? Wenn er im Gegenteil ein Eroberer war, der vor Blut und Gewalt nicht zurückschreckte? Nicht davor, seine gnadenlos dogmatische „Heidenmission“ durchzudrücken, nicht davor, die Polaben, die schon 300 Jahre in Ratzeburg wohnten, als der Benediktinermönch dorthin kam, zu unterjochen?

Wenn das so stimmte, wär es ganz schlecht fürs Image der Kirche, dann hätten die Polaben vielleicht Grund gehabt, Ansverus und 18 Mönche zu steinigen, weil er sie schikaniert, bedroht, viele von ihnen ermordet hat. Würde dies breit öffentlich diskutiert, wäre es vielleicht aus mit den seit 1950 stattfindenden katholischen Wallfahrten zum Ansverus-Kreuz bei Einhaus bei Ratzeburg, wo die Steinigung stattgefunden haben soll. Denn Geschichtsschreibung ist immer auch Mythenbildung, Deutung; der Ausgangspunkt der Erzählung entscheidet: Wird einer quasi aus heiterem Himmel ermordet, oder ging dem etwas voraus?

Etwas Licht sucht Krimi-Autor Christoph Ernst in seinem neuen Buch „Ansverus Fluch“ ins Dunkel zu bringen, das Cover schön geschmückt mit besagtem Ansverus-Kreuz vor Loch-Ness-artig vernebeltem Ratzeburger See. Denn der ist nicht nur Idyll, sondern auch Schauplatz von Grausamkeiten gewesen. Und „Mission“ hieß im Wesentlichen, dass die Andersgläubigen, sprich „Heiden“, sich entweder taufen ließen und ihr Land in begrenztem Maß behalten konnten – oder sie widerstanden, und das Land der Renitenten fiel an die christlichen Eroberer.

Im konkreten Fall hatten sich die Mönche die heilige Quelle der polabischen Göttin Siwa auf der Ratzeburger Insel unter den Nagel gerissen. In einen Brunnen nahe der Quelle hat Christoph Ernst gleich zu Beginn des Romans eine Tote gelegt: eine junge Frau, die vor rund 1.000 Jahren gewaltsam zu Tode kam. Wer mordete sie und warum legte man sie in den Brunnen, dessen Wasser der Leichnam verunreinigen würde?

Es scheint nicht zu passen, auch nicht aus Sicht der Mönche, die den Brunnen doch hätten nutzen können. Oder vielleicht doch: Wer den Glauben hat, besitzt die Macht. Und wenn die Siwa-Quelle und ihre Brunnen kein Wasser mehr führen, schwächt das die Göttin und das Selbstwertgefühl der Polaben, sind sie leichter zu demoralisieren, zu missionieren und zu unterwerfen.

Außerdem – vielleicht musste die eventuell von Mönchen gemordete Frau schnell verschwinden, und später kamen die selbst gesteinigten Mönche nicht mehr dazu, sie zu verlegen, den Brunnen wieder zu aktivieren?

Fürs erste – und für lange – schien das Problem gelöst, aber letztlich verschwindet nichts: Auch Ötzi ist wieder aufgetaucht, und so finden Ratzeburger Projektmitarbeiter, als sie einen Erlebnis-Pfad anlegen wollen, die Tote im Brunnen. Begreifen natürlich nicht, wie brisant sie ist, welche Geschichte von Mönchsgewalt sie erzählen könnte. Begreifen auch nicht, warum alsbald einer der Finder tot daliegt und ein anderer fortan Probleme und Drohungen bekommt. Der Privatermittler Jacob Fabian wird, als er anfängt, in Archiven zu wühlen, samt Frau und Kind bedroht.

Der Autor blättert die Geschichte der brutalen Missionierung der Polaben exem­plarisch auf

Kompliziert ist das Geflecht von Ursachen und Interessen; die einen wollen die alte Quelle zum Ausgangspunkt einer Wellness-Oase fürs strukturschwache Ratzeburg machen, woraufhin die Stadtväter frohlocken, bis der Bürgermeister gemordet wird.

Anderen wiederum ist fanatisch daran gelegen, die alte Geschichte von Ansverus und den Polaben im Dunkel zu lassen, auch den Fluch des Ansverus, der angeblich alle Nachfahren der steinigenden Polaben verfluchte. Der Privatermittler ermittelt, zunehmend von Wahrheitsfindung fanatisiert – und traut dann doch den Falschen, entkommt nur knapp.

Ein gut recherchiertes, spannendes Buch, das eine ganz eigene Facette kirchlicher Geschichte untersucht und die berechtigte Frage stellt, ob ein lange zurückliegendes Verbrechen weniger verurteilenswert ist und ob sich Institutionen – in diesem Fall die Kirche – dem nicht stellen müssen wie heute jedes Unternehmen, das zumindest seine NS-Zeit aufarbeitet.

Denn Kirche war früher eine Wirtschaftsmacht, die etwa im Zuge der Kreuzzüge Ländereien eroberte, kolonisierte – und wie viel Prozent des heutigen Kirchenbesitzes auf vergangenem Unrecht beruhen, ist noch längst nicht erforscht. Eine unendliche Geschichte. Christoph Ernst hat sie exemplarisch aufgeblättert.

Christoph Ernst: „Ansverus Fluch“, Leda-Verlag, 362 S., 10,99 Euro