piwik no script img

Aus dem Bauch heraus

Versuchsanordnung Ein Duell mit der Literatur selbst:Ian McEwan lässt in „Nussschale“ einen Embryo erzählen

von Stephan Wackwitz

In der langen Reihe unwahrscheinlicher und unzuverlässiger Erzähler, die sich die literarische Moderne in ihrer Geschichte hat einfallen lassen (Zwerge, Hunde, Tote), ist der Erzähler (oder die Erzählerin?) in Ian McEwans neuem Buch vermutlich der oder die unzuverlässigste, unglaubhafteste und paradoxeste. Der kurze Roman ist die Geschichte des Mordes einer hochschwangeren Ehefrau an ihrem Mann, erzählt von ihrem ungeborenen Kind.

Wir sind in London, in den ersten Jahren des Jahrhunderts, in einem heruntergekommenen Haus in Hamilton Terrace, einer sündhaft teuren Gentrifizierungsgegend von St. Johns Wood. Die schöne 28-jährige Frau eines mäßig erfolgreichen Lyrikers hat sich mit dessen Bruder eingelassen, einem nicht besonders intelligenten oder sympathischen Immobilienmakler. Der Ehemann ist ausgezogen und kommt nur manchmal zu Besuch, schwankend zwischen Stolz, Wut, Resignation und dem verzweifelten Versuch, die geliebte Frau zurückzuerobern.

Es ist ein heißer Spätsommer. Die letzten mühsamen Wochen einer Schwangerschaft. Die ungeborene Erzählerin – so sollen wir glauben – bekommt im Mutterleib alles mit. Sie hat Mitleid mit ihrem Vater. Sie reflektiert über den emotionalen Zustand ihrer Mutter. Sie kann angeblich sogar die Weinsorten unterscheiden, die ihre Mutter unverantwortlicherweise dauernd zu sich nimmt. Sie sorgt sich über ihre Zukunft. Wird sie ihr Leben in einem Waisenhaus beginnen oder im Gefängnis?

Warum machtMcEwan das? Der Schlüssel ist, dass dieser Roman trotz seiner Unmöglichkeit funktioniert

Sie reflektiert über die aus den Fugen geratene Weltlage. Es gibt Sexszenen. Eine letzte Aussprache des Paars findet statt. Der raffiniert (aber natürlich nicht raffiniert genug) eingefädelte Giftmord wird geschildert. Die Besuche der Detektivin. Die Hoffnung, dass alles unentdeckt bleiben wird. Das Einsetzen der Wehen, ein letzter Konflikt des Paars: Die Frau hat die Pässe versteckt, um zu verhindern, dass ihr Komplize sie im letzten Moment im Stich lässt und allein seine Haut rettet …

Embryos können nicht erzählen, es ist unmöglich. Der Autor McEwan bemüht sich mit allen verfügbaren erzählerischen Mitteln, den inneren Dialog des ungeborenen Erzählers mithilfe der Sensationen, die Embryos im Mutterleib tatsächlich zugänglich sind (Geräusche, Stimmungen, der Herzschlag der Mutter) dichtungslogisch in Verbindung zu bringen mit der Welt außerhalb seiner (oder ihrer) Isolation, Dunkelheit und Bewegungsunfähigkeit. Aber es funktioniert einfach nicht. Schon einem Embryo die Sprache und das Bewusstsein zuschreiben zu wollen, ohne die Erzählen nicht denkbar ist, muss scheitern.

Es ist völlig klar, dass McEwan das alles genau weiß. „Um mich abzulenken, lasse ich meine Gedanken wandern und spioniere den beiden nach“, sagt der ungeborene Erzähler einmal unvermittelt. „Ein reines Fantasiekonstrukt. Nichts davon ist real.“ Warum macht McEwan das? Der Schlüssel liegt, glaube ich, in der paradoxen Tatsache, dass dieser kleine, auf der Oberfläche realistische (sogar reißerisch realistische) – in Wirklichkeit aber hoch experimentelle – Roman trotz seiner offensichtlichen erzähllogischen Unmöglichkeit für den Leser funktioniert. Man kann das Buch nicht aus der Hand legen. Man will wissen, wie es weitergeht, man will wissen, was eigentlich vor sich geht, man will hinter die zahllosen Spiegel sehen.

McEwans Buch ist eine Versuchsanordnung. Oder besser noch: ein Duell. Auf einer Seite des Spielfelds steht eine demonstrativ modernistische Überstrapazierung dessen, was Samuel Taylor Coleridge the willing suspension of disbelief genannt hat (und was wir in diesem Fall wirklich nicht aufbringen können). Und auf der anderen die Kraft und der Zauber des Erzählens. Das Erstaunliche besteht darin, dass das Erzählen gewinnt. Die spannende Geschichte ist stärker als die Parodie eines Hauptmittels der Moderne: jener Erzählposition des unzuverlässigen Erzählers, der aus einer Nervenheilanstalt heraus erzählt; oder über die Schranke hinweg, die die Spezies canis lupus familiaris von der Spezies homo sapiens trennt; oder die Sphäre der Lebenden von der der Toten.

Damit kann man diesen Roman – unter anderem – als einen literaturgeschichtlichen Kommentar lesen. McEwan war immer am konventionellen Erzählen so brennend interessiert wie am Flirt mit dem erzählerischen Experiment. Seine Entwicklung über die Jahre hat ihn aber immer deutlicher an der Seite des naturalistischen Erzählens gezeigt, auf der Seite eines festen Bündnisses zwischen Autor und Leserbedürfnis. In „Nussschale“ führt er experimentell vor, warum er diese Entwicklung genommen hat. Warum sie, zumindest für ihn und für uns, seine treuen und immer wieder begeisterten Leser, unvermeidlich war. Das geheime Motto seines Buchs lautet „Quod erat demonstrandum“.

Ian McEwan: „Nussschale“. A. d. Englischen von Bernhard Robben. Diogenes, Zürich 2016, 288 S., 22 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen