: Eine labile Größe
Comeback Beim 8:4-Erfolg von Borussia Dortmund gegen Legia Warschau unterlaufen den Akteuren surreal viele Fehler.Für den lange verletzten Marco Reus ist es das ideale Spiel, um seine besondere Bedeutung für das Team zu demonstrieren
Aus Dortmund Daniel Theweleit
Das war klug, denn all die seltsamen Details dieses Spiels, die Fehlerhaftigkeit und die ungehemmte Spiellust waren zu einem perfekten Rahmen für die geradezu kitschige Wiedergeburt des Marco Reus geworden. Zu einem Glücksfall für den BVB also. Die auf diesem Niveau recht seltene Mangelhaftigkeit eines Spiels, das Tuchel als „surreal“ bezeichnete, wurde zur Grundlage einer der spektakulärsten Auferstehungsgeschichten dieses Fußballjahres. Und das gefiel Tuchel wiederum hervorragend. „Ein fantastiches Comeback“ attestierte der Trainer seinem zuletzt immer wieder schwer gebeutelten Star.
Beide Mannschaften griffen fröhlich an, verteidigten aber zugleich, als handle es sich um einen Altherrenkick auf irgendeiner Parkwiese. Und so konnte der nach sechsmonatiger Verletzungspause zurückgekehrte Reus ohne viel Gegenwehr seine Fußballkunst zur Schau stellen. „Ich fühle mich hundertprozentig stabil, aber bis ich hundertprozentig fit bin, das dauert noch ein bisschen“, sagte er, nachdem ihm drei Tore und eine Vorlage geglückt waren. Seinen letzten Treffer in der Nachspielzeit erkannte ihm allerdings die Uefa am Mittwoch kurioserweise ab, weil ein polnischer Abwehrspieler den Ball abgefälscht hatte.
Die Wirkung dieser Erfolgsmomente auf das Wohlbefinden des labilen Fußballers kann gewaltig sein. Denn Reus durfte ziemlich überraschend die Kapitänsbinde tragen und war der große Held in einer Partie, die man so schnell nicht vergessen wird. Nie zuvor waren in einem Spiel der Königsklasse zwölf Tore gefallen, der alte Rekord stammte aus dem Jahr 2003, als der AS Monaco 8:3 gegen Deportivo La Coruna gewonnen hatte. Diese Bestmarke ist nun übertroffen, und Reus war nicht nur wegen seiner Treffer die zentrale Figur. Schon vor dem Anpfiff sprachen alle über den Rückkehrer, der seit dem im Mai gegen Bayern München verlorenen Pokalfinale kein einziges Spiel absolviert hatte.
Reus war eine der tragischen Figuren des Fußballsommers, nach der WM 2014 verpasste er auch die EM. Wochenlang wusste niemand, welchen Verlauf die seltsame Adduktorenverletzung nehmen würde. Irgendwie war Reus zu einer Kunstfigur geworden. In den Klatschspalten wurde berichtet, dass er endlich seinen Führerschein gemacht hat, nachdem er zuvor lange Zeit ohne solch eine Erlaubnis gefahren und erwischt worden war. Außerdem dribbelte ein computeranimierter Reus-Avatar durch die Werbespots für ein neues Computerspiel.
Der Fußballer aus Fleisch und Blut war dagegen abgetaucht, und man wusste nie, wie genau man Tuchel beim Wort nehmen konnte, wenn er von den Fortschritten seines Spielers schwärmte: „Es ist ein Genuss, Marco im Training zu sehen, er ist in einer Topverfassung und auf einem bemerkenswerten spielerischen Niveau“, hatte der Trainer in der vorigen Woche gesagt. Kurz darauf musste Reus pausieren, weil seine neuen Schuhe ihm Fersenprobleme bereiteten. Dieser Abend zeigte nun, dass Tuchel nicht übertrieben hat. Und wie sehr er Reus in den letzten Wochen vermisst hat, brachte er deutlich zum Ausdruck: „Im Sommer sind uns drei wichtige Spieler weggebrochen, und plötzlich war mit Marco, der seit dem Pokalfinale fehlt, noch ein vierter weg“, sagte Tuchel, der sich Reus als „Fixpunkt“ in seiner jungen Mannschaft wünscht.
Wenn alles gut läuft, dann kann der mittlerweile 27-Jährige ein tragende Säule im runderneuerten Team werden, das zwar in der Lage ist, Bayern München zu schlagen und mit Real Madrid mitzuhalten, in der Bundesliga aber erstaunlich viele Punkte gegen schwächere Gegner vergeudete. Als Hauptgrund dafür wurde immer wieder mangelnde Erfahrung angeführt, Reus bringt diese nun mit ein. Und die Hoffnung ist groß, dass der sensible Körper des Angreifers endlich stabil bleibt. Nach dem Sieg gegen die Bayern und der Rückkehr des vermissten Leistungsträgers ist die Welt beim BVB harmonisch wie lange nicht.
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