Berliner Szenen: Kindl Boulevard
Undichte Stellen
Wenn es regnet, tropft es aus dem Dach der Kindl Boulevard Einkaufpassagen. Als ich das erste Mal Töpfe und Eimer überall auf dem Boden sah, dachte ich, ich wäre in Buenos Aires während der Regenzeit und hätte nur geträumt, in Neukölln, überhaupt in Deutschland zu wohnen. Der unterschiedliche Wasserklang je nach Gefäßmaterial gehört zum Soundtrack meiner Kindheit. Auch das unwohle Gefühl, vergessen zu haben, rechtzeitig die Eimer zu leeren, zu voll, um sie zu transportieren, oder zu spät, das Wasser schon längst übergelaufen.
Diesmal gehe ich in die Passagen, um einen Moment lang irgendwo anders zu sein. Inzwischen haben identisch aussehende schwarze Plastikeimer den Job übernommen, das Wasser zu empfangen. Also, es tropft! Und ich freue mich. Es hört sich immer noch wie experimentelle Musik an, aber es sieht viel ordentlicher aus. Es sieht nicht mehr nach Lateinamerika aus, sondern so, als hätte die Neuköllner Oper sich ausgebreitet und die Kulisse für die nächste Inszenierung bereits fertig montiert.
Am Ende des Gangs flankieren drei nebeneinandergestellte Eimer den Zugang zu den kaputten Rolltreppen. Weißes, schwaches Licht. Ich erwarte, dass jederzeit schwarz gekleidete Gestalten aus den geschlossenen Läden herauskommen und mit einer Szene anfangen, die zu Win Wenders Pina-Bausch-Film passen könnte.
Stattdessen ersetzt nun eine Frau die vollen durch leere Eimer. Ob sie nur dafür hier ist, ob sie das alles so absurd und schön findet wie ich, ob sie Regen hasst, ob sie nicht doch eine Schauspielerin ist?
Ein Mann mit Regenschirm geht vorbei, ein anderer mit Tüten voller Pfandflaschen, ein Pärchen, vielleicht auf dem Weg ins Rollberg Kino. Die alltägliche Performance hat nichts mit undichten Stellen zu tun.
Luciana Ferrando
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