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Die undemokratische Postmoderne

Theater Der „russische Theaterfrühling“: Junge Schauspieler aus Moskau und Petersburg suchen nach einer eigenen Erzählung

von Katja Kollmann

„Ich spiele auf dem Akkordeon …“, immer wieder singt der junge russische Schauspieler das bekannte sowjetische Kinderlied. Er spielt einen jungen Mann, der sich auf die Bühne eines Theaters stellt und die Menschen im Saal zum Mitsingen zwingen will. Angetrieben von einem Schlagzeug, hetzen er und die anderen Absolventen der Schauspielschule des Moskauer Künstlertheaters in einem wilden Stakkato durch diese höchst subversive Spielanleitung von Dmitrij Prigow. Mit künstlichem Dauerlächeln stehen die 13 im Einheitslook (kariertes Hemd, Jeans und Hornbrille) an den Mikrofonen im Theaterforum Kreuzberg. Sie beschreiben, wie sich die Spirale der Machtdemonstration immer weiter dreht, bis sich zuletzt eine Frau auf der Bühne öffentlich ausziehen muss, ohne dass es im Publikum zu Gegenreaktionen kommt.

„Umsturz“ des Moskauer Off-Theaters Teatr Praktika eröffnete den „Russischen Theaterfrühling“, der aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums der Städtepartnerschaft zwischen Moskau und Berlin im Herbst stattfindet. Insgesamt fünf russische Theater zeigen noch bis zum 8. November an verschiedenen Orten in Berlin ihre Inszenierungen. Bis auf das staatliche Moskauer Meyerhold-Zentrum sind es Off-Theater aus Moskau und Petersburg, die sich ganz bewusst als Gegengewicht zu den vielen staatlichen Schauspielhäusern in beiden Städten verstehen. So verwendet das Teatr Praktika in „Umsturz“ Gedichte des 2007 verstorbenen Konzeptkünstlers und Poe­ten Dmitrij Prigow. Sie nutzen Prigows Poem über den Missbrauch des Theaters als öffentlichen Ort der Macht­de­mons­tra­tion und der Machtausübung. Was auf der Bühne vordergründig absurd erscheint, erweist sich auf einer Metaebene als Beschreibung der aktuellen politischen Situation in Russland: überall Machtausübung mit Mitteln der Gewalt ohne signifikanten Protest der Bevölkerung.

In „24+“ des Moskauer Off-Theaters Teatr. Doc kommt Politik in einem Nebensatz vor. Fünf MeisterschülerInnen der Moskauer Schule für Neues Kino erzählen in teilweise autobiografischen Monologen nur Intimes aus dem Privatleben junger Menschen um die „24+“. Ironisch kommentieren die Bühnenfiguren die eigene Rolle in der Liebe und in Dreiecksbeziehungen. Und so hinterfragt eine Protagonistin en passant ihre eigene Teilnahme an einer De­mons­tra­tion am Moskauer Bolotnaja-Platz. 2014 und 2015 fanden dort regelmäßig Demonstrationen gegen Putin statt. Sie reflektiert ihre Beweggründe und kommt zu dem Schluss, dass sie nur wegen ihres damaligen Freundes dort war, und um sich gut zu fühlen als Teil einer Bürgerbewegung.

Wenn man „Umsturz“ und „24+“ nacheinander sieht, fällt auf, wie gut sich beide Inszenierungen ergänzen. Beide sind stark reflexiv, wunderbar ironisch und von beneidenswerter Leichtigkeit. Zusammengenommen beleuchten sie die russische Gesellschaft von beiden Seiten. Die Feststellung, dass es einen genuin öffentlichen Raum nicht mehr gibt, wird ergänzt durch das Eingeständnis einer jungen Frau, dass sie vor zwei Jahren aus rein persönlichen, nur ihr Selbstgefühl betreffenden Motiven bei einer Demonstration war.

Ein Thema beschweigen

Undemokratische Machtstrukturen treffen so auf ein sehr postmodernes Lebensgefühl, das junge Menschen in ­Moskau und in anderen europäischen Metropolen auszeichnet. Das ist die knappe Quintessenz der ersten beiden Inszenierungen des „Russischen Theaterfrühlings“. Und nicht zu vergessen die Spielwut dieser Nachwuchsschauspieler!

In diesen Tagen kommen drei weitere Inszenierungen im Kühlhaus und im Theaterforum Kreuzberg zur Aufführung. So zeigt Teatr. doc „Schweigen“, ein Einmannstück des Autors und Regisseurs Wsewolod Lisowskij; die konzeptuelle Performance, in der ein Schauspieler ein Thema gemeinsam mit dem Publikum beschweigt, testet neue Formen. Aus Petersburg kommt „Brennstoff“, eine Produktion des dortigen Pop-Up-Theaters, das ohne festes Haus operiert. Ihr Stück beruht auf Interviews mit dem in Russland prominenten Unternehmer und Programmierer David Yang. Heute Abend findet außerdem im Kühlhaus eine Podiumsdiskussion mit den russischen Theatermachern statt.

Irgendwann versucht der Schauspieler vom Teatr Praktika in „Umsturz“, alle Strophen des Liedes „Ich spiele auf dem Akkordeon …“ zu singen, und er lässt seine Figur scheitern. Das von der Figur beschriebene Publikum erstarrt vor Angst. Und ein Lied, das jeder in Russland aus dem sowjetischen Zei­chentrickfilm „Tscheburaschka“ kennt, bleibt unvollendet.

Russischer Theaterfrühling, bis 8. November: „Sascha, bring den Müll raus“ und „Schweigen“ im Kühlhaus, „Brennstoff“ im Theaterforum Kreuzberg

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